Australiens Hassliebe zum Känguru

Wunder der Evolution oder Pest? 

Die Kängurubande frisst Südkartoffel-Snacks im Wild Life Sydney Zoo. Foto: Carola Frentzen/dpa
Die Kängurubande frisst Südkartoffel-Snacks im Wild Life Sydney Zoo. Foto: Carola Frentzen/dpa

SYDNEY: Farmer nennen sie eine Pest, Gourmets eine Leckerei und Tierschützer ein Wunder der Evolution: Kängurus. Die Australier verbindet eine Art Hass-Liebe mit ihrem Nationaltier.

Munter hüpft Dot durchs Gehege. Den Namen trägt sie wegen eines kleinen dunklen Punkts im Fell, gleich unter dem rechten Auge. Mit ihrer Gruppe aus fünf weiteren weiblichen Kängurus hat die Siebenjährige im Wild Life Sydney Zoo ein gutes Leben. Sie ist zutraulich, verfressen und extrem niedlich, während sie Besucher mit großen Augen anschaut. Aber um Haaresbreite wäre Dot schon als Jungtier gestorben: Ihre Mutter wurde auf Kangaroo Island vor der australischen Südküste tödlich von einem Auto erfasst.

«Dot befand sich damals im Beutel und war weitgehend von dem Aufprall geschützt», erzählt Jessica Dick, die in dem Tierpark in Sydneys berühmtem Viertel Darling Harbour als Pflegerin arbeitet und eine besondere Schwäche für Kängurus hat. Ein Passant bemerkte das Baby im Beutel und rief die Behörden. Dot musste per Flasche aufgezogen werden und konnte nicht mehr ausgewildert werden. «Ihre Geschichte teilt sie mit vielen Kängurus, die in Wildparks in ganz Australien leben», erzählt Dick, während sie die Hüpftierbande mit Süßkartoffel-Snacks versorgt.

«Ich kenne aus meinem Bekanntenkreis niemanden, der noch nicht im Auto mit einem Känguru zusammengeprallt ist», sagt Louise Anderson aus der Nähe von Melbourne. Sie selbst sei keine Ausnahme. Nach Schätzungen kommen auf jeden Australier mindestens zwei Kängurus - das wären etwa 50 Millionen Exemplare in dem riesigen Land. Aber das Verhältnis der «Aussies» zu ihrem Nationaltier ist zwiegespalten.

«Kängurus sind unsere nationale Ikone und werden auf der ganzen Welt als «typisch australisch» gefeiert», sagt Mick McIntyre, der vor fünf Jahren einen preisgekrönten Dokumentarfilm mit dem Titel «Kangaroo - A Love-Hate Story» veröffentlicht hat. Die seltsame Hassliebe der Australier zu ihrer Ikone sei hingegen international kaum bekannt.

In dem Film ist zu sehen, wie Nacht für Nacht Tausende Kängurus erschossen werden. Eine illegale Jagd, denn in Australien ist es verboten, ein Känguru zu töten, zu kaufen, zu verkaufen oder zu besitzen. Als Reaktion auf die hohe Känguru-Population vergibt die Regierung jedoch Lizenzen, die es erlauben, Kängurus zu keulen. Aber die Tiere werden auch ohne Lizenz getötet - und zwar im großen Stil.

Kängurus würden kommerziell bis zum Äußersten ausgebeutet, «ohne Rücksicht auf ihren Platz in der Ökologie dieses Kontinents und auf ihr Wohlergehen», so McIntyre. «Den Tieren werden durch den Druck der Känguru-Industrie, die auch Europa mit Fleisch und Häuten beliefert, jede Nacht barbarische Grausamkeiten zugefügt.»

Australier benutzten das Känguru-Emblem gerne als Maskottchen für ihre Sport-Teams und als Logo für Unternehmen, «aber gleichzeitig wird kein anderes an Land lebendes Wildtier in so einem Umfang abgeschlachtet wie das Känguru», betont McIntyre, der mit seiner Partnerin Kate jahrelang für die Doku recherchiert hat. So prangt das Beuteltier etwa auf den Maschinen der nationalen Airline Qantas.

Bei einem Rundgang durch Sydneys Traditionsviertel The Rocks zeigt sich, wie der Kommerz mit den Tieren aussieht: Eine Verkäuferin preist Känguru-Felle an, daneben werden Handtaschen und Geldbörsen aus Känguru-Leder feilgeboten. Restaurants von Adelaide bis Darwin haben Känguru-Steaks oder -Burger auf der Speisekarte. McIntyre sagt, es sei eine «nationale Schande», Kängurufleisch und -häute für Luxusgüter, Tierfutter und Gourmetlokale zu verwenden.

Bei den Dreharbeiten für die Doku stellte das Team fest, dass der mangelnde Respekt wohl noch von der weißen Kolonialgeschichte des Landes herrührt. Seither glaubten viele Farmer, dass die Pflanzenfresser eine Bedrohung für die Landwirtschaft darstellten, sagt McIntyre. Dabei sind sie ein Wunder der Evolution und bevölkern den Kontinent schon seit 25 Millionen Jahren. Die Ureinwohner verehren das Känguru als ihr Totem. «Dies ist ihr Land», sagt Max Dulumunmun Harrison vom Volk der Yuin im Film. «Sie sind Teil unserer Zeremonien.»

Es gibt vier Haupt-Arten: Das Rote Riesenkänguru, das Östliche Graue Riesenkänguru, das Westliche Graue Riesenkänguru und das Antilopenkänguru. Die Männchen sind wahre Muskelpakete. Oft werden sie fast zwei Meter groß und rund 90 Kilo schwer. Mit Sprüngen von bis zu neun Metern erreichen sie eine Geschwindigkeit von bis zu 65 Stundenkilometern. Die Sehnen der Hinterbeine sind wie Sprungfedern, und der mächtige Schwanz hilft, das Gleichgewicht zu halten.

In diesem Jahr ist es in Wohngebieten schon mehrmals zu Angriffen auf Menschen gekommen, bei denen die Opfer im Krankenhaus behandelt werden mussten. «Wenn sie sich nicht bedroht fühlen, sind sie ziemlich relaxed, aber das hängt von der Spezies ab», erzählt Pflegerin Jessica Dick.

Die Weibchen sind meist mit der Aufzucht der Jungen beschäftigt, die sie etwa ein Jahr lang säugen. Sechs Wochen alte Kängurus sind gerade einmal daumengroß und nackt - es scheint unfassbar, dass daraus in wenigen Jahren so mächtige Kreaturen werden. Die Muttertiere können schon wieder Nachwuchs zeugen, während sie noch ein älteres Baby säugen. Sie produzieren dabei zwei verschiedene Milchsorten für ihre Jungen - das kleinere bekommt aus einer Zitze Milch mit Antikörpern, das größere «Joey» fettreiche Milch für ein schnelles Wachstum.

Filmemacher Mick McIntyre hat inzwischen eine Tierschutzorganisation namens «Kangaroos Alive» gegründet. «Wir setzen uns jetzt dafür ein, dass die Australier lernen, mit den Kängurus zusammenzuleben und ihren Platz in diesem Land schätzen zu lernen - nicht nur als Sportmaskottchen oder für Firmenlogos.» Denn Kängurus seien zurecht Australiens Nationalikone und ein wahrer Schatz in der Tierwelt.

Überzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.
Pflichtfelder

Es sind keine Kommentare zum Artikel vorhanden, bitte schreiben Sie doch den ersten Kommentar.