Wo Medizin und Mafia in der Pandemie Hand in Hand gehen

Operation gegen die berüchtigte italienische Mafiagruppe 'Ndrangheta'. Foto: epa/Massimo Percossi
Operation gegen die berüchtigte italienische Mafiagruppe 'Ndrangheta'. Foto: epa/Massimo Percossi

ROM/CATANZARO: Mafia, Politik und Gesundheitswesen - die Nähe zwischen diesen drei Bereichen kann schon in normalen Zeiten Alarm auslösen. In Süditalien hat die Verquickung allerdings Tradition. Verschärft durch Corona lässt sich das Krankenhaus-Desaster dort kaum mehr vertuschen.

An einem Donnerstag im November rückten Polizisten an mehreren Orten Italiens zu einem besonderen Anti-Mafia-Schlag aus. Sie gingen nicht gegen irgendeine kriminelle Bande vor. Ziel war die 'Ndrangheta, das mächtigste und brutalste Verbrechernetz des Mittelmeerlandes. Mafia-Jäger Nicola Gratteri und andere Ermittler aus Kalabrien starteten mit der Aktion einen Angriff, der gerade in der Corona-Pandemie als Signal gelten kann: Sie lassen nicht locker im Kampf gegen die Verquickung von Mafia, Politik und Gesundheitswesen.

In Süditalien gelten Teile des medizinischen Systems, darunter auch Krankenhäuser und Apotheken, als mafiös unterwandert. Manche Politiker lassen sich von der 'Ndrangheta einkaufen, um deren Geschäfte in diesem Bereich zu decken.

«Es hat schon viele Fälle von Korruption im Gesundheitssektor gegeben», sagt Staatsanwalt Gratteri, ohne seine aktuelle Ermittlung bewerten zu wollen. Dort fließe eben viel Geld, staatliches Geld: «Dieser Sektor macht um die 70 Prozent des regionalen Haushalts aus», beschreibt der 62-Jährige das, was die Mafia lockt. Gratteri ist seit Jahrzehnten eine der zentralen Figuren im Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Er lebt unter Polizeischutz.

Im aktuellen Fall wurde ein führender Politiker aus der Regionalhauptstadt Catanzaro unter Hausarrest gestellt. Er steht im Verdacht, der 'Ndrangheta mit Genehmigungen für Medikamentenhandel und den Aufbau eines Apothekennetzes vor allem in Kalabrien geholfen zu haben. Auch Geldwäsche spielt eine Rolle. Im Gegenzug sollten die Mafiosi ihm, so der Vorwurf, bei den Regionalwahlen 2014 Stimmen beschaffen. Außer gegen den Parlamentarier ging die Justiz an der Stiefelspitze gegen knapp 20 Mitglieder des Grande-Aracri-Clans vor.

Was aus deutscher Sicht ungewöhnlich klingt, hat in Italien durchaus Tradition. Dass Politiker bei Familienclans Wählerstimmen kaufen, ist nicht so selten. Die 'Ndrangheta besitzt ihre Basis im armen Kalabrien. Dort leben rund zwei Millionen Menschen. Seit den 1990er Jahren gilt sie als mächtigste Mafia-Organisation Europas. Die Camorra in Kampanien und die sizilianische Cosa Nostra habe sie in vieler Hinsicht überholt, heißt es. Zusätzlich zum Kokainhandel und Müllgeschäften sind die Clans in andere Branchen eingestiegen, auch in den Medizinsektor. «Dies ist ein Bereich, in dem sich in der Vergangenheit überschneidende Interessen konzentriert haben», analysiert Mafia-Jäger Gratteri.

Andere Experten formulieren es so: Wo der Staat scheitert, suchen sich die Bürger andere Sicherheiten. Die 'Ndrangheta-Clans seien bestrebt, staatliches Versagen zu fördern. «Ein System, wo nichts funktioniert, ist genau der Ort, an dem Mafia-Organisation alles untergraben und damit einen Sieg davontragen, indem sie für Liquidität, Kontrolle und Organisation sorgen», beschrieb der Anti-Mafia-Autor Roberto Saviano («Gomorrha») dieser Tage, was in Kalabrien politisch zu beobachten ist.

Das Medizin-System dort sei seit langem defizitär. Unter dem Deckmantel von Reformen sei es weiter kaputt gespart worden, befand er in der Zeitung «La Repubblica». In Kalabrien bestehe die Praxis fort, Verträge mündlich zu schließen. Außerdem seien, wie in anderen Regionen Süditaliens, reihenweise mittlere und kleine Krankenhäuser geschlossen worden. Das räche sich in der aktuellen Notlage. «Pandemien schaffen keine Krisen, Pandemien radikalisieren bestehende Krisen (...)», urteilte der Schriftsteller.

Und was tut die 'Ndrangheta? Fachleute berichten, dass Kinder aus kriminellen Familien Medizin und Pharmazie studiert hätten, um in Verwaltung und Hospitälern einflussreiche Positionen zu erklimmen. Gratteri warnt jedoch vor Pauschalurteilen. Familienzugehörigkeit alleine mache Menschen nicht zu Verbrechern.

Außerdem stoßen die Ermittler auf eine Vielzahl krimineller Geschäftsmodelle. Medizinhandel, Krankentransporte, Bestattungsdienste: exklusive Zugänge zu Aufträgen, überteuerte Preise, Bestechung und Erpressung, die Liste ist lang.

Italiens Gesundheitswesen ist von der Basis her staatlich und steuerfinanziert. Es bietet damit eine Grundversorgung der Bürger. Daneben existiert eine oft schnellere, bessere und teure Behandlung in privaten Kliniken und Arztpraxen. Das öffentliche Netz wird großteils von den Regionen geplant, finanziert und überwacht.

Weil die Klagen über die schlechte Versorgung in Kalabrien alt sind, hatte die Regierung in Rom schon vor Jahren einen staatlichen Kommissar entsandt. Ohne viel Erfolg, wie es scheint. Nachdem die erste Corona-Welle hauptsächlich den Norden traf, erreichte die zweite Virus-Welle im Herbst auch den Süden. Das Desaster im Gesundheitssektor Kalabriens sorgt seitdem für Schlagzeilen. Rom feuerte den alten Kommissar wegen Unfähigkeit - und hatte dann wochenlang Schwierigkeiten, einen neuen Aufpasser zu finden.

Um die engen Bindungen zwischen Politik, Mafia und Gesundheitswesen zu kappen, braucht es mehr als die Großrazzien der Polizei. Davon ist auch Gratteri überzeugt. Trotzdem tun sie ihren Teil: «Wir müssen wachsam bleiben», sagt der Staatsanwalt. Aber auch die Kultur und das Denken aller müssten sich ändern.

Überzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.
Pflichtfelder

Es sind keine Kommentare zum Artikel vorhanden, bitte schreiben Sie doch den ersten Kommentar.