Wo geht's hier aus dem Königreich?

Schottland sucht neuen Kompass

Die SNP-Vorsitzende Nicola Sturgeon in Edinburgh. Foto: epa/Robert Perry
Die SNP-Vorsitzende Nicola Sturgeon in Edinburgh. Foto: epa/Robert Perry

EDINBURGH/ST. ANDREWS: Schottland - ein von Großbritannien unabhängiges Land - und schon bald zurück in der EU? Nicola Sturgeon hat für diese Ziele gekämpft wie keine andere. Nun tritt die Politikerin ab - ohne ihren großen Traum verwirklicht zu haben. Geht es auch ohne sie?

Nicola Sturgeon und die Vision von einem unabhängigen Schottland, das gehört zusammen wie der Big Ben und London. Aber geht das eine auch ohne die andere? Am Montag (27. März) tritt die prominenteste Vertreterin der Unabhängigkeitsbewegung als Ministerpräsidentin der schottischen Regierung und von ihrem Amt als Chefin der Schottischen Nationalpartei (SNP) zurück - und hinterlässt ihrem Nachfolger eine Mammutaufgabe.

Als man 2014 erstmals darüber abstimmte, ob Schottland dem Vereinigten Königreich Goodbye sagen und unabhängig werden solle, setzte der Landwirt Alan Steven sein Kreuzchen bei «Yes». Heute wie damals baut Steven in der Nähe der schottischen Universitätsstadt St. Andrews Rosenkohl, Kartoffeln und Getreide an - doch seine Meinung hat sich geändert: Waren er und sein Land ohne die britische Zentralregierung und mit mehr Macht für Edinburgh besser dran? Das glaubte er vor achteinhalb Jahren wirklich.

Heute würde Steven nicht noch einmal «Yes» ankreuzen. «Es ist nicht die richtige Antwort», sagt er beim morgendlichen Tee auf seinem Bauernhof zwischen Traktoren und Wagenladungen voller «Tatties», wie hier die Kartoffeln genannt werden.

Die Welt im Jahr 2023 ist in vielerlei Hinsicht eine andere als 2014, als die Schottinnen und Schotten mit einer Mehrheit von gut 55 Prozent dagegen votierten, sich von Großbritannien loszulösen. Zwischen damals und heute liegen nicht nur eine Pandemie und der Beginn eines Krieges in Europa. Auch der Brexit hat die Lage fundamental verändert. Für manche ist das ein zentrales Argument, erneut abzustimmen und so schnell wie möglich wieder der EU beizutreten. Immerhin haben 2016 in Schottland - anders als in den meisten anderen Teilen des Königreichs, wo der EU-Austritt insgesamt mehr Fans als Gegner hatte - weniger als 40 Prozent für den Brexit gestimmt.

Alan Steven gehörte zu dieser Minderheit und bereut das auch nicht, auch wenn der Brexit ihm neue Probleme beschert hat. Dank Bürokratie und zusätzlicher Kontrollen kostet ihn der Transport von Saatgut heute manchmal 14 Tage - früher waren es zwei. Aber die Erfahrung hat den Landwirt skeptisch werden lassen. Eine EU-Außengrenze, wie sie dann wohl zwischen Schottland und England verlaufen würde, könnte auch für ihn drastische Konsequenzen haben: Der Markt vor der eigenen Haustür ist neben dem schottischen der wichtigste für sein Gemüse. Für Steven bedeutet die «Brexit-Lektion», Versprechen von Politikerinnen und Politikern weniger Vertrauen zu schenken.

Um ihr erklärtes Ziel eines unabhängigen Schottlands zu erreichen, muss die regierende Schottische Nationalpartei (SNP) Menschen wie Alan Steven zurückgewinnen. Die 52-jährige Nicola Sturgeon, die nach mehr als acht Jahren aus persönlichen Gründen aufhört, war auch international das bekannteste Gesicht der Unabhängigkeitsbewegung, ihr Abgang hat viele Gleichgesinnte schockiert.

«Das wirft uns auf jeden Fall zurück - vielleicht um einige Jahre», meint Jane Philips, die sich in der «Yes»-Hochburg Dundee in einer lokalen Pro-Unabhängigkeits-Gruppe engagiert. Die Lehrerin im Ruhestand ist SNP-Mitglied und damit eine von denjenigen, die darüber entscheiden dürfen, wer auf Sturgeon folgen wird. Das Ergebnis soll am Montag bald nach Ende der Abstimmung um die Mittagszeit vorliegen.

Zwei Kandidatinnen und ein Kandidat stehen zur Auswahl - und Philips hat sich bereits entschieden. «Auch wenn sie mir eigentlich zu konservativ ist, habe ich Kate Forbes meine Stimme gegeben», verrät sie. «Sie ist Pragmatikerin, sie kennt sich mit Finanzen aus. Wir müssen einfach zeigen, dass wir es können.» Viele Parteimitglieder rechnen dennoch damit, dass der bisherige Gesundheitsminister Humza Yousaf das Rennen machen wird. Er gilt als eine Art politischer Erbe Sturgeons mit einer ähnlich progressiven Agenda. Die dritte Kandidatin, Ash Regan, liegt in Umfragen abgeschlagen hinten.

Die seit fast 13 Jahren in London regierendenden Konservativen haben es in Schottland schwer, das Regionalparlament dort verfolgt durchweg eine liberalere Politik als die Tories. Die Schotten definieren sich zudem als Gesellschaft, die Einwanderung wirtschaftlich wie kulturell stärker schätzt und benötigt, weshalb viele Bürger den von London propagierten Anti-Migrations-Kurs ablehnen.

Im Falle der Unabhängigkeit will die schottische Regierung ihr Land zurück in die EU führen - und damit die Freizügigkeit sowie den freien Handel mit dem lukrativen Markt auf dem Festland zurückgewinnen. Das Credo: Ein starker Fokus auf den Ausbau von erneuerbaren Energien und Wasserstoff soll Schottland zum attraktiven Handelspartner machen.

Kritiker halten dagegen, Schottland könne ökonomisch nicht ohne den Rest des Vereinigten Königreichs bestehen. Sie fürchten eine Art Mini-Brexit mit neuen Handelsbarrieren und viel zusätzlicher Bürokratie. Und auch das Schreckensszenario, dass der nach dem Brexit ohnehin schon gesunkene Einfluss Großbritanniens auf politischer und wirtschaftlicher Ebene noch weiter schwinden könnte, wenn das Königreich ein wichtiges Mitglied einbüßt.

Alle SNP-Kandidaten haben angekündigt, die Unabhängigkeit in den nächsten Jahren zu forcieren. Doch weil die Regierung in London ein weiteres Referendum blockiert und auch das höchste britische Gericht dem Plan einen Dämpfer verpasste, muss ein neuer Weg ausgehandelt werden.

Trotz aller Vorbehalte gegen die Tories: Manche aus dem «Yes»-Lager in Schottland befürchten, dass eine mögliche Labour-Regierung nach der nächsten britischen Parlamentswahl mehr Zugeständnisse einräumt, so dass Anreize für eine echte Unabhängigkeit schwinden könnten. Jane Philips, früher selbst Labour-Wählerin, erwartet dagegen kaum Veränderung in dieser Frage: «Das wird sein wie bei den Tories - nur mit roter Krawatte.»

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