«Wir sind mehr» und «Unteilbar»

Gibt es eine Renaissance der Demo?

Zuschauer stehen vor dem Konzert unter dem Motto «#wirsindmehr» auf dem Parkplatz vor der Johanniskirche. Foto: Sebastian Kahnert/Dpa
Zuschauer stehen vor dem Konzert unter dem Motto «#wirsindmehr» auf dem Parkplatz vor der Johanniskirche. Foto: Sebastian Kahnert/Dpa

BERLIN (dpa) - Die Proteste im Hambacher Forst. Das Konzert unter dem Slogan «Wir sind mehr» in Chemnitz und eine Riesendemonstration in Berlin. 2018 war von Protesten geprägt. Ist die gute alte Demo wieder da?

Ob die «Omas gegen Rechts» oder die Baumhausbesetzer im Hambacher Forst: 2018 war ein Jahr mit vielen Protesten. Im Oktober in Berlin zählten die Veranstalter der «Unteilbar»-Demonstration rund 240.000 Menschen zwischen Alexanderplatz und Siegessäule. Das waren sechs Mal so viele wie erwartet. In Chemnitz kamen im September 65.000 Menschen zu einem großen Antirassismus-Konzert, nachdem zuvor Bilder von Hitlergrüßen und fremdenfeindlichen Ausschreitungen aus Sachsen um die Welt gegangen waren. Sogar die früher als unpolitisch geltende Schlagersängerin Helene Fischer schloss sich dem Anti-Rechts-Slogan «Wir sind mehr» an.

Manche fühlten sich angesichts von rechter Hetze an die 90er Jahren erinnert, als Asylbewerber um ihr Leben fürchten mussten und es Lichterketten sowie Solidaritätskonzerte gab.

Immer wieder mischten Musiker 2018 auf der politischen Bühne mit, darunter die Punkband Feine Sahne Fischfilet oder Herbert Grönemeyer, der im dpa-Interview sagte: «Jeder Einzelne ist für das Klima hier verantwortlich.» Es gab auch Stimmen, die vielleicht nicht so erwartbar waren. Die sächsische Volksmusikerin Stefanie Hertel sagte der «taz»: «Wir müssen aufhören vor allem, was fremd und anders ist, Angst zu haben.»

Allein in Berlin sind Jahr für Jahr um die 5.000 Kundgebungen angemeldet. War da 2018 für Deutschland ein besonderes Demo-Jahr? Der Bremer Protestforscher Sebastian Haunss vermag das nicht abzuschätzen, wie er sagt. Auch in den Vorjahren habe es große Proteste und Demos gegeben, etwa beim G20-Gipfel in Hamburg oder gegen das Freihandelsabkommen TTIP. Dieses Jahr gingen viele Menschen gegen die neuen Polizeigesetze auf die Straße, etwa in München. «Die Fragen der inneren Sicherheit haben immer schon relativ viele Leute in Deutschland mobilisiert», sagt Haunss.

Was das rechte Lager angeht: Pegida, das islamfeindliche Bündnis in Dresden, ist zwar nicht mehr so stark wie am Anfang. Aber dafür waren die rechten Proteste in Chemnitz überraschend groß. Auslöser war der Tod eines Mannes durch Messerstiche, unter Tatverdacht: Zuwanderer.

Haunss' Beobachtung: Zuvor hatten sich rechte Proteste oft an Jahrestagen orientiert, etwa dem Todestag von Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß in Wunsiedel oder in Dresden zur Erinnerung an die Bombardierung von 1945. Heute machen die Rechten schnell mobil. «Dass man so kurzfristig große Demonstrationen von rechts sieht, ist wirklich eine neuere Entwicklung.»

Warum haben sich die «Gelbwesten»-Proteste aus Frankreich nicht in Deutschland durchgesetzt? Das liegt laut Haunss an den spezifischen Verhältnissen in Frankreich - es sei im Grunde ein Protest der Provinz gegen das Zentrum, also die Hauptstadt. Es geht demnach bei den «Gilets jaunes» um Klassen und Schichten, um niedrige Einkommen, die nicht zum Leben reichen. «In Frankreich ist einfach diese ganze soziale Frage viel stärker mit Protesten verknüpft», erklärt Haunss.

Wenn die Leute in Deutschland auf die Straße gehen, dann bei den ganz großen Themen, etwa beim Anti-Braunkohle-Protest im Hambacher Forst für die Zukunft des Planeten. Oder es sind Dinge vor der Haustür, Bauvorhaben oder Mieten. In Frankfurt am Main hieß es bei einer Demo mit 5.000 Leuten etwa: «Keine Profite mit der Miete» und «Miethaie zu Fischstäbchen». Sprüche wie zu Sponti-Zeiten in den 80ern.

Früher gab es den Cyber-Pessismus, der besagte: Wenn die Leute im Netz etwas klicken oder den «Gefällt mir»-Daumen setzen, gehen sie nicht mehr auf die Straße. Dieser Gedanke ist laut Haunss spätestens mit dem Arabischen Frühling 2010/2011 verflogen, wo sich das Geschehen im Internet auch auf der Straße spiegelte. «Das Netz-Aktivismus oder Online-Aktivismus die Demonstrationen verdrängen würde als Aktionsformen, das findet definitiv nicht statt.»

Der Duisburger Politikwissenschaftler Christoph Bieber fühlte sich beim Hambacher Forst an prägende Protestereignisse von früher erinnert, Stichwort Startbahn West. Das Internet kann seinen Worten nach einen verstärkenden Effekt haben. «Wenn Protestierende über die Verständigung im Netz erkennen, dass es genügend Gleichgesinnte zu geben scheint, dann sinkt möglicherweise auch die Schwelle zu sagen: Ich gehe damit vor die Tür, ich bin Teil einer Gruppe und vertrete keine Einzelmeinung.»

Auch 2019 könnte es wieder viele Bilder von Demonstranten geben, etwa bei einem Castor-Transport von Garching nach Ahaus. Auch vom Bündnis «#Unteilbar» wird man sicher wieder hören. In welcher Form, ob mit einer Demonstration oder einer Konferenz, ist noch offen, wie Sprecher Felix Müller sagt. «Dass wir weitermachen, ist auf jeden Fall beschlossene Sache.»

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