Wieder Tränengas gegen Migranten

Krisendiplomatie auf Hochtouren

Foto: epa/Tolga Bozoglu
Foto: epa/Tolga Bozoglu

ATHEN/ISTANBUL/BERLIN: Wieder versuchen Hunderte Migranten, von der Türkei aus nach Griechenland und damit in die EU zu gelangen. Wieder setzen griechische Grenzschützer Tränengas und Blendgranaten ein. Eine ganze Serie von Krisentreffen ist geplant.

Nach der von der Türkei verkündeten Öffnung der Grenze zur EU sind griechische Sicherheitskräfte abermals mit Blendgranaten und Tränengas gegen Hunderte Migranten vorgegangen. Diese hatten versucht, die Grenze bei Kastanies zu passieren und nach Griechenland und damit in die EU zu gelangen, wie das griechische Staatsfernsehen (ERT) berichtete. Die europäische Krisendiplomatie läuft angesichts der neuen Migrationswelle auf Hochtouren.

An diesem Dienstag wollen sich die Spitzen der EU ein eigenes Bild vom Geschehen an der Grenze machen. Nach UN-Angaben harren rund 13.000 Migranten bei Kälte auf der türkischen Grenzseite zu Griechenland aus. Viele wollen weiter Richtung Deutschland.

Der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis teilte mit, er werde am Dienstag EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Ratschef Charles Michel und Europaparlamentspräsident David Sassoli an der griechischen Landgrenze zur Türkei treffen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wollte noch am Montag mit Bundeskanzlerin Angela Merkel telefonieren. Am Abend war ein Treffen Erdogans mit Bulgariens Regierungschef Boiko Borissow in Ankara geplant.

Die griechischen Sicherheitsbehörden versuchen, einen neuen Migrantenzustrom aus der Türkei zu stoppen. In den vergangenen 24 Stunden seien 9877 Menschen daran gehindert worden, aus der Türkei auf dem Landweg nach Griechenland zu kommen, hieß es am Montag aus dem Büro von Regierungssprecher Stelios Petsas. Am Grenzübergang von Kastanies am Grenzfluss Evros kam es nach einer ruhigen Nacht am Vormittag erneut zu Ausschreitungen. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex will rasch auf das Hilfeersuchen Griechenlands wegen der Vielzahl von Flüchtlingen aus der Türkei reagieren.

In sozialen Medien kursierten Videos, die einen angeblich von einem griechischen Soldaten erschossenen Migranten zeigen sollen. Die Regierung in Athen wies die Darstellung zurück. Das Video sei «fake news», twitterte Regierungssprecher Petsas.

In Berlin warnte Regierungssprecher Steffen Seibert Flüchtlinge und Migranten in der Türkei vor einem Aufbruch Richtung Europa. «Wir erleben zurzeit an den Außengrenzen der EU zur Türkei, auf Land und zur See, eine sehr beunruhigende Situation. Wir erleben Flüchtlinge und Migranten, denen von türkischer Seite gesagt wird, der Weg in die EU sei nun offen, und das ist er natürlich nicht», sagte Seibert.

Österreich und Ungarn betonten ihren gemeinsamen Willen zum Kampf gegen illegale Grenzübertritte. Österreich sei im Vergleich zur Migrationskrise 2015 inzwischen deutlich besser aufgestellt, sagte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem ungarischen Kollegen Sandor Pinter. «Wir haben die Lehren aus 2015 gelernt.» Österreich habe nun für diesen Fall mehr Polizisten zur Verfügung, eine bessere Einsatztaktik und eine bessere Ausrüstung. «Unser Ziel ist es und bleibt es: anhalten und nicht durchwinken», sagte Nehammer.

Die Türkei hat rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. In einem Flüchtlingspakt mit der EU von 2016 hat die Türkei eigentlich zugesagt, gegen illegale Migration vorzugehen. Im Gegenzug nimmt die EU regulär Syrer aus der Türkei auf. Ankara erhält zudem finanzielle Unterstützung für die Versorgung der Flüchtlinge im Land.

Einheiten der griechischen Armee führten auf den Inseln im Osten der Ägäis und am Evros Schießübungen durch, wie das Staatsfernsehen unter Berufung auf das Verteidigungsministerium in Athen berichtete. Die Übungen sind aus Sicht von Kommentatoren eine Reaktion Athens auf den Zustrom von Migranten, die am Vortag aus der Türkei zu den Inseln Lesbos, Chios und Samos übergesetzt hatten, und sollen offenbar der Abschreckung dienen.

Während seit Jahresbeginn täglich etwa 100 Menschen aus der Türkei kamen, setzten am Sonntag nach neuesten Angaben der Küstenwache mehr als 1.000 Migranten zu den Inseln über. Am Montag ertrank in der Ägäis ein Kind, als vor Lesbos ein Schlauchboot mit 48 Migranten unterging.

Gleichzeitig verschlimmerte sich die humanitäre Lage in Nordsyrien, wo in der letzten großen Rebellenhochburg Idlib die syrische Regierung mit russischer Unterstützung auf dem Vormasch ist. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht vor den Angriffen - auch in Richtung Türkei. Die Türkei hatte bereits zuvor gewarnt, sie könne und wolle keinen weiteren Flüchtlingsansturm bewältigen.

In Idlib hatte die Türkei, die im syrischen Bürgerkrieg islamistische Rebellen unterstützt, Beobachtungsposten aufgestellt. Auslöser der jüngsten Krise war der Tod von mindestens 34 türkischen Soldaten bei einem syrischen Luftangriff in der vergangenen Woche.

Angesichts der Lage an der türkisch-griechischen Grenze forderte der CDU-Vorsitzbewerber Friedrich Merz, der Türkei jede nötige Unterstützung zur Unterbringung von Flüchtlingen zu geben. Zugleich müsse ein Kontrollverlust wie 2015 vermieden werden. Der Ex-Umweltminister und Kandidat für den CDU-Vorsitz, Norbert Röttgen, sprach sich für eine Neuauflage des Flüchtlingspakts mit der Türkei aus. «Entweder wir Europäer helfen den Flüchtlingen in der Türkei unter Kooperation mit der Türkei oder die Flüchtlinge werden aus ihrer Not getrieben und zu uns kommen», sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag im ARD-«Morgenmagazin».

Außerdem forderte Röttgen, im Syrien-Konflikt mehr Druck auf Russland auszuüben. Russland sei «politisch der entscheidende Spieler», um die Fluchtursachen in Syrien unter Kontrolle zu bekommen.

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