Wie sich «Großbritanniens Gemüsegarten» mit dem Brexit selbst bedroht

Auch die Läden im britischen Boston haben sich voll auf ihre osteuropäische Kundschaft eingestellt. Angeboten werden
Auch die Läden im britischen Boston haben sich voll auf ihre osteuropäische Kundschaft eingestellt. Angeboten werden "europäische Produkte", mit rein englischen Waren macht man hier kaum ein Geschäft. Foto: Silvia Kusidlo/Dpa

BOSTON (dpa) - Nirgends in Großbritannien war der Anteil der Brexit-Befürworter bei der Volksabstimmung vor über zwei Jahren so hoch wie in Boston. Widersprüchlich: Ohne Migranten ist die Arbeit dort kaum zu schaffen.

Ackerflächen, in der Ferne ein alter Pub, die Nordsee nur wenige Kilometer entfernt. Und der Zug, der im kleinen Bahnhof hält, hat nur einen einzigen Waggon, in dem die Menschen vor sich hindösen. Die ostenglische Stadt Boston liegt mitten im «Gemüsegarten Großbritanniens». Viele Migranten bewältigen hier für wenig Geld die mühsame Arbeit in der Landwirtschaft. Und doch haben fast 76 Prozent der Wähler dort für den Brexit gestimmt - ein landesweiter Rekord.

Polen, Bulgaren, Rumänen, Letten: Die meisten Einwohner störten sich damals an der hohen Zahl der Einwanderer, die auf den Feldern und in Fabriken arbeiten. In zwei Monaten, am 29. März, will Großbritannien schon die Europäische Union verlassen. Und an diesem Dienstag wird über den Brexit-Plan B von Premierministerin Theresa May abgestimmt. Wie ist die Stimmung nun in der kleinen Stadt, die auf den ersten Blick mit ihrer Pfarrkirche und dem Flüsschen fast idyllisch wirkt?

«Meine polnischen Freunde sind wegen des Brexits zurück in ihre Heimat gegangen», berichtet Alan Rasolpoor. Nun kämen zum Arbeiten vermehrt die Rumänen. Der Kurde hat die britische Staatsbürgerschaft und arbeitet in einem Lebensmittelladen, der für «europäische Produkte» wirbt. Mit einem nur rein englischen Sortiment kann man in der Grafschaft Lincolnshire kaum Gewinn machen. Was hält er vom Brexit? «Die im Parlament sind klug und sollen alles entscheiden», winkt der Verkäufer ab, der vor 18 Jahren nach England kam. «Wenn wir hier in diesem Land leben, müssen wir auch die Regeln befolgen.»

Wer durch das Städtchen etwa 180 Kilometer nördlich von London geht, meint in Osteuropa zu sein. Sprachwirrwarr, Kleidung, Frisuren, Läden - das wirkt alles nicht sehr britisch. Die starke Migration war denn auch das heiße Thema im Brexit-Wahlkampf.

Einheimische werfen den Einwanderern vor, für Dumpinglöhne zu arbeiten und so Jobs in der Landwirtschaft und den Fabriken wegzunehmen. Zudem würden die vielen Osteuropäer Schulplätze und Krankenbetten blockieren, Sozialleistungen schnorren und die Gewaltkriminalität in die Höhe treiben - so lauten die Vorwürfe. Teile der britischen Presse bezeichneten Boston als «Mord-Hauptstadt» und «osteuropäischste Stadt» des Vereinigten Königreichs.

Ein Bulgare, der nur Lebensmittel aus seiner Heimat an Landsleute verkauft, ist da ganz anderer Meinung: «Die Briten sind doch viel zu faul, für den Mindestlohn zu arbeiten. Wir sind dagegen fleißig.» Die Verunsicherung unter den Migranten wegen des EU-Austritts sei groß. Wie viele andere - auch Briten - mag er weder seinen Namen bei solchen Diskussionen nennen noch sich fotografieren lassen. In seinem Laden herrscht ein ständiges Kommen und Gehen; von Zucker über Tütensuppe bis hin zu Shampoo gibt es alles aus Bulgarien. Außerdem können von hier aus Pakete in die Heimat geschickt werden.

Der 50 Jahre alte Bill wirft den Ausländern vor, dass sie sich nicht integrieren. «Sie bilden geschlossene Gemeinschaften und sprechen unsere Sprache nicht», sagt der Mitarbeiter eines Schlüsseldienstes. Viele Migranten seien wegen des Brexits schon weggezogen.

Boston ist schon lange auf Arbeitskräfte aus anderen Regionen angewiesen. Zuerst kamen eigene Landsleute aus Mittelengland, dann in den 1990er Jahren die Portugiesen. Die wiederum wurden später unter anderem von Polen und Letten ersetzt. Inzwischen arbeiten in der Landwirtschaft und in den Fabriken immer mehr Bulgaren und Rumänen.

Professor Ian Barnes ist der Überzeugung, dass sich die Menschen in Boston mit ihrer Begeisterung für den EU-Austritt selbst das Wasser abgraben. «Etwa 25 Prozent aller Erwerbstätigen hier sind Migranten», sagt der Professor von der Universität Lincoln, die nur etwa 50 Kilometer von Boston entfernt ist. «Wenn alle Migranten wegen des Brexits nach Hause gingen, dann gäbe es ein ernstes Problem mit dem Arbeitskräftemangel.» Alle Unternehmen würden darunter leiden, betont der Experte für europäische wirtschaftliche Integration.

«Die meisten Arbeitgeber hier sind überzeugt, dass die Migranten härter arbeiten und sich weniger beschweren als die Einheimischen», so Barnes. Auf Kartoffel-, Karotten- oder Weizenfeldern arbeiten: In Zukunft müssten wohl mehr Briten solche Aufgaben übernehmen. «Der Preis etwa für Gemüse wird dann steigen und einige Kulturen müssten in anderen Regionen angebaut werden.» Einwanderer übernehmen ihm zufolge auch Aufgaben im Dienstleistungssektor, etwa in der Pflege.

Selten findet man jemanden in Boston, der sich ausdrücklich positiv über die Migranten äußert - Jacqui Paterson ist eine von ihnen. Sie findet, dass die Ausländer «nette Gemeinschaften» bilden. Ohne sie wäre die Stadt am Boden und völlig überaltert. Paterson, die aus Luton nördlich von London stammt und schon seit Jahren in Boston lebt, ist gegen den EU-Austritt und für ein zweites Referendum. Will die Verkäuferin in der abgelegenen, kleinen Stadt mit den vielen Brexit-Befürwortern bleiben? «Nein», sagt sie fast ein bisschen empört: Das könne sie sich nun wirklich nicht vorstellen. Vielleicht ziehe es sie eines Tages doch wieder Richtung London.

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