Wichtige Wendepunkte für einen ausreichenden Klimaschutz

Rote Positionslichter leuchten in der Dämmerung an Windrädern im Windenergiepark «Odervorland» im Landkreis Oder-Spree. Foto: Patrick Pleul/Dpa-zentralbild/dpa
Rote Positionslichter leuchten in der Dämmerung an Windrädern im Windenergiepark «Odervorland» im Landkreis Oder-Spree. Foto: Patrick Pleul/Dpa-zentralbild/dpa

POTSDAM (dpa) - Auf jedem Produkt sollten Angaben zum CO2-Ausstoß stehen. Mehr Geld müsste in alternative Energien fließen und Klimaschutz eine soziale Norm werden. Forscher zeigen Wege für einen echten Wandel beim Klimaschutz.

Echte gesellschaftliche Trendwenden könnten nach Forscherangaben helfen, das Klima effektiv zu schützen. Ein internationales Team nennt dafür sechs Bereiche wie Energie, Finanzwelt und Bildung. Bis spätestens 2050 müsse der gesamte globale Treibhausgasausstoß auf Null reduziert sein, was tiefgreifende Änderungen nötig mache. Die Gruppe unter Führung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) hat zahlreiche Expertenvorschläge analysiert und präsentiert nun mögliche Trendwenden und Wege («Kippinterventionen») zu ihnen. Die Studie des Teams um den ehemaligen PIK-Direktor Hans Joachim Schellnhuber ist in den «Proceedings» der US-Nationalen Akademie der Wissenschaften («PNAS») erschienen und enthält unter anderem folgende Vorschläge:

ENERGIEERZEUGUNG: Hier müsste der Trend weg von fossilen Brennstoffen gehen. Dabei ist vor allem die Politik gefordert: 2015 waren die Subventionen für Kohle, Erdöl und Erdgas noch mehr als doppelt so hoch wie die Subventionen für erneuerbare Energien. Außerdem empfehlen die Forscher einen Umbau der Energieversorgung von zentralen Kraftwerken hin zu dezentraler Energiegewinnung, etwa durch Solar- und Windkraft.

STÄDTE: Direkte und indirekte Emissionen von Gebäuden summieren sich weltweit zu 20 Prozent des Treibhausgasausstoßes. Die Wissenschaftler schlagen große Demonstrationsprojekte vor, in denen auch klimafreundliches Bauen gezeigt werden könnte. So könne ein großes Gebäude, das zu 80 Prozent aus laminiertem Holz errichtet werde, Tausende Tonnen Kohlendioxid (CO2) vermeiden. Auch in der öffentlichen Infrastruktur von Städten besteht den Forschern zufolge ein großes CO2-Einsparpotenzial.

FINANZSYSTEM: Wenn Investoren befürchten müssten, dass sich ihr Engagement bei fossilen Brennstoffen nicht mehr rentiert, könnten sie ihre Gelder aus dieser Branche abziehen. «Simulationen zeigen, dass nur neun Prozent der Investoren das System kippen könnten, was andere Investoren dazu veranlasst, dem zu folgen», schreiben die Forscher. Es gebe bereits Anzeichen für einen Wendepunkt, nämlich Kürzungen bei der finanziellen und versicherungstechnischen Unterstützung von Kohleprojekten.

NORMEN UND WERTE: Die Gewinnung und Nutzung fossiler Brennstoffe, die nicht im Einklang mit dem Ziel des Pariser Klimaabkommens sei, die Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad zu begrenzen, ist den Forschern zufolge «wohl unmoralisch». Denn solches Handeln verursache weitestgehend schwerwiegende und unnötige Schäden. «Das Bewusstsein für die globale Erwärmung ist hoch, aber die gesellschaftlichen Normen zur grundlegenden Veränderung des Verhaltens sind es nicht», wird Ko-Autor und PIK-Direktor Johan Rockström in einer Mitteilung seines Instituts zitiert. Dies gelte es zu ändern. «...längerfristig ist wohl ein neues soziales Gleichgewicht erforderlich, in dem der Klimaschutz als soziale Norm anerkannt wird.»

BILDUNGSSYSTEM: «Nachhaltigkeit kann nicht auferlegt werden, sie muss gelernt werden», schreiben die Studienautoren. Deshalb plädieren sie dafür, in deutlich höherem Maße als heute eine umwelt- und klimabewusste Lebensweise in den Schulunterricht einzubeziehen. Qualitativ hochwertige Bildung unterstütze und erweitere Normen und Werte und könne schnell zu Verhaltensänderungen bei Einzelpersonen und ihren Kohorten führen, betonen die Wissenschaftler. ·

VERBRAUCHERINFORMATIONEN: Wichtig für einen gesellschaftlichen Wandel sind nach der Einschätzung der Forscher auch Informationen für die Verbraucher. Unter den analysierten Vorschläge waren auch Angaben über den Ausstoß von Treibhausgasen zur Herstellung eines Produkts auf jeder Packung, ähnlich wie die Nährwertangaben bei Lebensmitteln. «Es sollte den Menschen einfach gemacht werden, einen klimaneutralen Lebensstil zu führen», sagt Rockström.

Andreas Ernst von der Universität Kassel, der selbst nicht an der Studie beteiligt war, ist der Ansicht, dass sogenannte Social Tipping Interventions ein sehr guter Weg sind, den Blick auf die gesellschaftlichen Möglichkeiten des Umsteuerns zu richten. Mit Geschick an der richtigen Stelle platzierte Maßnahmen könnten umfassende Erfolge bei der Bewältigung der Klimaerwärmung haben. «Wie etwa ein einzelner Skifahrer eine gewaltige Lawine auslösen kann», sagte der Professor für Umweltsystemanalyse/Umweltpsychologie und Stellvertretender Geschäftsführender Direktor des Center for Environmental Systems Research.

Der Fokus auf die (positive) soziale Dynamik beim Klimawandel sei eine gute, neue Entwicklung. «Die in der Studie vorgestellten Ansatzpunkte – Technologie, Finanzsystem und so weiter – sind an sich keineswegs neu», erklärte Ernst. «Neu ist die Hypothese, dass es mit bestimmten, eleganten Interventionen gelingt, großflächige Veränderungen auszulösen.» Die in der Studie besprochenen Eingriffe blendeten allerdings noch politische und wirtschaftliche Machtfragen als wesentliche Beharrungsfaktoren völlig aus.

Maria Daskalakis vom Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Kassel gibt zu bedenken, dass es eines fachübergreifenden Ansatzes bedürfe, um der Komplexität der Themenstellung gerecht zu werden. «Die Idee, es gäbe einige wenige soziale Kippelemente beziehungsweise -interventionen, mit denen das Ruder herumgerissen werden könnte, scheint mir hier nicht zielführend.»

Sie empfiehlt zudem einen sehr vorsichtigen Umgang mit den Ergebnissen beziehungsweise deren Generalisierung und der Ableitung von Maßnahmen. Der Rücklauf bei der Expertenbefragung sei sehr niedrig gewesen, zudem habe es vor allem Antworten europäischer Experten gegeben, so Daskalakis. Zudem mangele es an einer Spezifizierung der Fachdisziplinen der Antwortenden und weiteren Parametern. «Zudem ist noch festzustellen, dass die Antworten der Befragten wohl sehr unterschiedlich waren. Dies führt dazu, dass die identifizierten Maßnahmen dann teilweise von nur relativ wenigen Personen empfohlen wurden.»

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