WHO-Europa-Chef: Müssen eine Corona-Müdigkeit vermeiden

Foto: Pixabay/Miguel Á. Padriñán
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KOPENHAGEN: Die Corona-Krise hat viele Schwächen Europas offenbart. Lektionen daraus will die WHO Europa nutzen, damit sich die Szenen vom Frühjahr nicht wiederholen. Die Organisation will eine bestimmte Altersgruppe ins Boot holen.

Das Europa-Büro der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht den Kontinent deutlich besser im Kampf gegen das Coronavirus aufgestellt als zu Beginn der Pandemie. Der Ausbruch im Frühjahr habe sowohl Stärken als auch Schwächen der Region offengelegt, aus denen man bereits jetzt wichtige Erkenntnisse ziehe, sagte WHO-Regionaldirektor Hans Kluge am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur in Kopenhagen. Auch wenn sich die Lage im Winter verschlechtern werde, könne man auf diesen Erfahrungen aufbauen. Zugleich warnte er vor einer Corona-Müdigkeit und einem zunehmenden Mangel an Vertrauen in die Wissenschaft.

Entscheidend sei unter anderem, den Sorgen der Menschen zu begegnen und die Gesundheit gleichzeitig weit oben auf die politische Agenda zu setzen, sagte Kluge. «Wir müssen eine Covid-Müdigkeit vermeiden.» Das gelte ganz besonders dabei, die Jüngeren der Gesellschaft im Corona-Kampf an Bord zu holen. Man müsse sich klarmachen, dass Jugendliche wegen der Pandemie einen Sommer ihres Lebens verpasst hätten. «Viele junge Leute haben das Gefühl, dass die Pandemie für sie mit einem geringen Risiko und hohen Kosten kommt.» Für den daraus entstehenden Frust müsse Verständnis aufgebracht werden.

Zugleich müsse man gemeinsam mit der jungen Generation nach Lösungen suchen, ohne Verbote auszusprechen, sagte Kluge. «Wir dürfen nicht sagen: Tut dies nicht, tut das nicht.» Vielmehr müsse man Wege finden, soziale Kontakte auf sichere Weise zu pflegen. «Sozialer Umgang ist so wichtig, um Einsamkeit zu verhindern.» Das Gefühl des Alleinseins sei bereits vor der Corona-Pandemie eine der größten Sorgen der Jüngeren gewesen.

Kluge rechnet damit, dass die derzeit zunehmenden Infektionszahlen in Europa in den kommenden Monaten weiter steigen werden. Dennoch blieb der Belgier optimistisch. «Heute im September ist nicht gestern im Februar. Im Februar haben wir die Gesellschaft, die Schulen, ins Visier genommen. Jetzt nehmen wir das Virus ins Visier. Das ist die gute Nachricht.» Dass man unmittelbar über erneute nationale Lockdowns nachdenken müsse, glaube er nicht.

Besonders eine Erkenntnis sei entscheidend, unterstrich Kluge. «Die unbezahlbare Lektion, die wir in den vergangenen neun Monaten gelernt haben, ist die grundsätzliche Bedeutung eines starken Gesundheitssystems, das auf einer medizinischen Grundversorgung und dem Engagement der Gemeinschaft basiert.» Eine Reihe von Ländern sei hart getroffen worden, wo es eine chronische Unterfinanzierung des Gesundheitssystems und Kosteneinsparungen bei den Beschäftigten gab.

Ältere Menschen und ihre Betreuer seien vielerorts im Stich gelassen worden, sagte er. Dass die Todesrate derzeit trotz steigender Infektionszahlen weitaus geringer ist als zur Hochphase im Frühjahr, weise darauf hin, dass man daraus gelernt habe.

Wichtig sei auch eine klare Kommunikation, die das öffentliche Vertrauen stärken müsse. «Was mich beunruhigt, ist der Vertrauensverlust in die Wissenschaft. Wenn die Leute nicht mehr an die Wissenschaft glauben, dann ist das nicht gut.» Viel Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen sei auf Missverständnisse und falsche Kommunikation zurückzuführen.

Zugleich bleibe er optimistisch, dass es Impfstoffe gegen das Coronavirus geben werde - wann genau, das lasse sich nicht abschätzen, sagte Kluge. «Man kann die Entwicklung eines Impfstoffs nicht erzwingen und Sicherheit und Standards übergehen. Da gibt es keine Abkürzung.»

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