West-östlicher Wahn

West-östlicher Wahn

Die Welt ist auf vielerlei Weise geteilt. Zunächst politisch. Aber auch weltweit in arm und reich oder in terroristisch-kriegerische oder gewaltfreie Länder. Es gibt viele weitere Unterschiede. Aber ich möchte mich hier auf einen anderen Punkt konzentrieren: Der Westen propagiert die Freiheit des Individuums. Und darauf sind wir größtenteils stolz. Der Osten hat das Gegenteil zur Norm erklärt. Der sich rasant ausbreitende islamische Fundamentalismus, ebenso wie das autoritär regierte China oder Russ­land treten als machtvolle Antipoden zum westlichen Liberalismus, zur Idee der Freiheit und des Rechts des Einzelnen auf die Bühne der Weltgeschichte.

Was ist gut für die Menschen? Was wollen sie? Wir im Westen lieben unsere persönliche Freiheit. Hier kann jeder für sich entscheiden, was er will oder wohin er will – auch wenn es nicht immer so klappt wie erhofft. Der Osten der Welt hat sich gegen den Individualismus entschieden. Dort entscheidet der Diktator, die Partei oder die herrschende Clique, was geschehen soll. Unsere vielbeschworenen westlichen Werte gelten im Osten der Welt nicht viel, auch wenn unsere weithin beneidete Gesellschaft sich darauf beruft. So, wie ich es sehe, ist dieses Problem auch vorwiegend politisch zu sehen. Die Gefängnisse im nahen wie im fernen Osten - nehmen wir diese Gegend mal großzügig so zur Kenntnis – sind überfüllt mit Menschen, die individuelle Interessen vertreten, seien es politische oder künstlerische. Sie träumen von der Freiheit des Westens, vom Liberalismus, der jedem Bürger seine eigene Entscheidung erlaubt. Tatsache ist: Es gibt auf diesem Gebiet einen Krieg. Es geht um die Freiheit des Einzelnen oder um die vorgegebene Entscheidung von oben. Meine Meinung ist eindeutig und klar: Ich will über mein Leben, über meine Tätigkeiten selbst entscheiden. Das war auch hier bei uns im Westen nicht immer so. Diese Freiheit wurde hart erkämpft. Die Erfindung des Individualismus war eine der großen Erfindungen der neuen Welt. Im fernen Osten glaubt man immer noch, dass die Gesellschaft das Leben bestimmt. Ich gebe gerne zu, dass zum Beispiel in Thailand das Prinzip der Großfamilie lange gut funktioniert hat. Erst sorgen die Alten für die Jungen, und dann geht es anders herum. Aber auch hier bahnt sich schon ein Umschwung an. Bei uns sieht es oft so aus, dass die Alten abgeschoben werden, während die jungen Leute Singles bleiben mit wechselnden Partnern. Okay, trotzdem ihre eigene Entscheidung. Mir immer noch lieber, als mir vorschreiben zu lassen, was ich zu tun oder zu lassen habe, welchen Mann das Mädchen zu heiraten hat oder welche Tätigkeit es ausüben darf. Natürlich stellt sich die Frage, wer hat das richtige System? Schließlich ist das auch die Frage nach Demokratie oder Diktatur. Mit letzterer hat sich fast die halbe Welt eingerichtet. Andere, wie wir im Westen, leben in der Freiheit, die jedem erlaubt, selbst zu bestimmen wie er leben will. Irgendwann wird sich entscheiden, in welche Richtung die Menschheit gehen will. Ich für meinen Teil denke, auf Dauer werden Freiheit und Demokratie sich durchsetzen. Es gibt zu viele Menschen, die darauf hoffen, in Freiheit leben zu dürfen. Ich habe noch nie gehört, dass es Menschen gibt, die es in den Osten zieht, um sich reglementieren zu lassen. Für die Regierungen im Osten ist ihr System eindeutig von Vorteil: Von oben wird bestimmt, und unten wird gehorcht. Wer aus der Reihe tanzt, findet sich schnell im Gefängnis wieder. Westliche Demokratien müssen sich mit der Opposition abquälen, mit Demonstrationen oder Kompromisse eingehen. Verfügungen und Gesetze, die in China wenige Tage dauern bis zu ihrer Durchsetzung, können sich im Westen oftmals über Jahre hinziehen. Trotzdem will ich hier leben. In Freiheit! Goethes umfangreichsten Gedicht-Zyklus, der West-östliche Divan habe ich abgewandelt in „der west-östliche Wahn“. Ich bin davon überzeugt, wir werden das Ergebnis noch erleben. Aber egal, ob Sie Christ sind, Muslim, Hindu, Buddhist, Jude oder Atheist: Es ist völlig egal. Das sagt sogar der Papst in Rom. Wichtig ist nur, ob Sie als Mensch menschlich handeln, edel, hilfreich und gut – um Goethe noch einmal zu zitieren. Ja, während ich diese Zeilen schreibe, frage ich mich, ob die Leser dieser Kolumne nicht denken, ich sei ein Romantiker oder Moralist. Nein, das bin ich nicht. Ich bin genau das Gegenteil, ein Realist. Ich sehe, höre oder lese was ringsum passiert und greife im Rahmen meiner Möglichkeiten ein. Die sind beschränkt, aber wenn viele Menschen so handeln, dann kann vieles bewirkt werden. Mein Handwerk ist in erster Linie die Feder, andere engagieren sich in Flüchtlingsheimen, in der Tafel oder spenden, was sie nicht mehr brauchen. Alles trägt dazu bei, das Los der Ärmsten zu lindern. Dennoch ist all die Hilfe derjenigen, die dazu beitragen, andere in ihrer Not zu helfen, nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Millionen auf der Welt hungern und verdursten, sterben an Krankheiten, die mit einfachster Medizin heilbar wären, die aber nicht vorhanden ist. In diesem Fall ist er Nord-südliche Wahnsinns. Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum Sie nicht in einem Elendsviertel in der dritten Welt geboren sind sondern auf der Sonnenseite der Welt, die alle Annehmlichkeiten für Sie bereit hält? Die Antwort auf diese Frage müsste doch eigentlich Konsequenzen hervorrufen. Es wäre toll, wenn Sie das auch so sehen und danach handeln würden. Wie gesagt, das hat mit Romantik nichts zu tun, das ist absoluter Realismus, ohne die unsere Welt auf Dauer nicht überleben wird. Wenn die hundert reichsten Menschen auf dieser Welt mehr besitzen als der Rest der Welt, dann ist der Zeitpunkt erreicht, um ein Haltesignal zu setzen. So kann, so darf es nicht weitergehen. Warum scheuen die Regierungen überall auf der Welt sich, von den Reichen deren Überfluss auf die ärmeren Schichten zu verteilen? Muss im Jahr 2018 immer noch pro Minute ein Mensch verhungern oder verdursten, während anderswo Nahrungsmittel auf dem Müll landen? Nochmals: Ich bin kein Romantiker. Ich weiß, dass es heute möglich ist, die gesamte Welt mit Wasser und Nahrung zu versorgen. Auch das Verteilungsproblem wäre zu lösen. Warum passiert das nicht? Die Antwort ist ebenso einfach wie zynisch: Es lohnt sich nicht für die Kapitalisten. Man kann es auch Gier nennen. Am Ende muss das Konto stimmen. Da stören die Hilfscontainer für die dritte Welt nur. Ich frage mich, ob die reichsten Menschen der Welt gut schlafen. Vielleicht machen sie sich Sorgen um ihren Reichtum. Sie werden permanent bewacht, sie sind ständig von Sicherheitskräften umgeben, und auch ihre Kinder werden rund um die Uhr überwacht. Ich würde das als unangenehm empfinden. Aber warum sollten sie für ihren Reichtum keinen Preis zahlen? In diesem Fall ist es der Nord-südliche Wahnsinn.

Überzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.