BERLIN: Tagelang mussten Fans der Luxusmarke auf ein erstes Bild des neuen Automodells warten. Die neue Kampagne kam ganz anders daher, löste Häme und Spott aus. Doch wo sind die Grenzen der Provokation?
Zu pink, zu gelb, zu woke - und lange Zeit kein Auto zu sehen. Auch Tage nach der Präsentation der neuen Jaguar-Werbung ebbt die Kritik am Auftritt der Luxus-Automarke nicht ab. Fans und Fachleute sind in Aufruhr.
Alles richtig gemacht, könnte man meinen. Das sogenannte Rebranding - eine neue Marketingstrategie für ein etabliertes Produkt - ist in aller Munde. Doch es stellt sich die Frage, ob man in schnelllebigen, von sozialen Medien getriebenen Zeiten nur noch mit provokanter Werbung durchdringen kann.
Schockwerbung ist bekanntes Prinzip
Neu ist der Schockwerbung-Ansatz nicht, quasi mit Lärm Aufmerksamkeit zu erzeugen, wie der Tübinger Medienwissenschaftler Guido Zurstiege sagt. «Die Digitalisierung beschert uns ein bekanntes Prinzip gewissermaßen auf Speed.»
Aneckende Werbung gab es immer wieder. Und teils zog sie viel weitere Kreise. Einst befassten sich das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof mit einer Anzeige des Modekonzerns Benetton, die einen als «H.I.V. Positive» abgestempelten Aidskranken zeigte. Jahre später sorgten montierte Kuss-Bilder unter anderem des damaligen Papstes Benedikt XVI. für Aufregung.
Beim Autobauer VW wurde ein Werbeclip 2020 ein Fall für den Vorstand. Ein Spot einer weiter gefassten Werbekampagne zum Golf 8 im Netz zeigte unter anderem eine überdimensionale weiße Hand, die einen schwarzen Mann herumschubst, am Kopf packt und in einen Hauseingang schnippt. Eine interne Prüfung kam zu dem Schluss, es gebe kein Anzeichen für rassistischen Vorsatz.
Oft ist es Geschmackssache
Vorwürfe der Diskriminierung erreichen immer wieder auch den Deutschen Werberat. Wenngleich laut Geschäftsführerin Katja Heintschel von Heinegg die Zahl der Beschwerden sinkt, bei denen die Selbstkontrollinstanz der Werbewirtschaft Fälle prüft. Im Jahr 2023 waren es 355. Meist gehe es um Geschlechterdiskriminierung, wobei nicht jeder erotische Bezug sexistisch sei. «Für Fragen des Geschmacks sind wir allerdings nicht zuständig.»
Ein Beispiel: Der Smoothie-Hersteller True Fruits hatte mal Probleme mit einer «Samensäfte»-Kampagne für Chiasamen-Säfte. Deren Plakatierung verweigerten nach Angaben des Unternehmens zwei Städte in Süddeutschland und die Deutsche Bahn. Dabei ging es um Sätze wie «Oralverzehr - schneller kommst Du nicht zum Samengenuss.» und «Bei Samenstau schütteln.»
True Fruits schreibt dazu: «Wir haben darüber nachgedacht, ob diese Art der Kommunikation öffentlichkeitstauglich ist, kurz überlegt und festgestellt, dass es uns egal ist.» Für eine Marke sei es wichtig, dass sie Profil habe.
Wer provoziert, muss mit Kritik leben
«Werbung darf provokant sein», sagt von Heinegg. Wie das geht, zeigte Anfang des Jahres Bitburger in einem Instagram-Post. Anlässlich des «Dry January» warb die Brauerei mit dem Bild einer Schwangeren für ihr alkoholfreies Bier. Samt dem Slogan: «Getestet von Müttern. Gebraut für euch alle.»
Da es sich um ein alkoholfreies Getränk handelt, seien hier die Regeln des Werberats eingehalten, erklärt von Heinegg. Dennoch handelte sich Bitburger wegen der Darstellung Kritik ein. «Ob unfreiwillig oder absichtlich: Wer provoziert, muss naturgemäß auch mit den Kritikern leben. Das ist nicht immer schlecht: Daraus können auch durchaus konstruktive Debatten entstehen.»
Werbung dürfe aber nicht auf Kosten von anderen gehen, betont von Heinegg. Wiederum gebe es keine Vorgaben in der Branche, dass Werbung beispielsweise diverse Gesellschaften abbilden müsse.
Handy statt Hamster
Der Werberat bietet auch Vorprüfungen an. Diese würden gerade bei sensiblen Themen wie Alkohol oder Lebensmitteln genutzt, sagt die Geschäftsführerin. Eine weitere Erkenntnis: «Alles mit Tieren führt immer wieder zu Beschwerden.»
So ruderte das Unternehmen Home Shopping Europe zurück, als es 2020 einen nach eigenen Angaben selbstironisch gedachten Werbespot veröffentlichte. In dem droht eine Frau einer anderen damit, deren Hamster Hansi in einem Standmixer zu schreddern - wenn sie ihr nicht verrät, woher sie ihr Kleid hat.
Schon kurz darauf folgte ein Video, in dem Hansis Tiertrainerin beteuert, dem Hamster gehe es gut. Und in dem gezeigt wird, dass Hansi ein Stuntdouble - eine Art Hamster-Roboter - hatte. Doch zwei Tage und zig kritische Kommentare später wurde das Tier im Spot ausgetauscht. Durch ein Handy.
«Es geht nie um die Provokation als Selbstzweck»
Wie weit also muss Werbung gehen, um sich Gehör zu verschaffen? «Es geht nie um die Provokation als Selbstzweck», sagt Matthias Spaetgens, Chief Creative Officer der Werbeagentur Scholz & Friends. «Aber man muss neue Wege gehen, um aufzufallen - und diese Wege sind meistens ungewöhnlich.»
So rechtfertigte Jaguar-Chef Rawdon Glover in der «Financial Times» die neue Werbestrategie mit den Worten: «Wenn wir so spielen wie alle anderen, werden wir einfach übertönt. Wir sollten uns also nicht wie eine Automarke aufführen.»
Entsprechend begeistert äußerte sich die Gründerin und Kreativchefin beim Studio Karl Anders, Claudia Fischer-Appelt, in der Fachzeitschrift «Horizont»: «Endlich ein Relaunch, der die Gemüter erhitzt. Ihr wisst ja, wenn's polarisiert, wird es gut.» Die alten Benzin- und Asphalt-Storys würden seit langem immer wieder erzählt, diese traditionelle Schublade verlasse Jaguar komplett. «Endlich mal ein neuer Gedanke, endlich mal eine echte Idee, endlich mal nach vorn.»
Keine ernsthafte Bedrohung
Medienwissenschaftler Zurstiege erkennt beim neuen Jaguar-Look keinen Tabubruch. Auch Werbung ohne ein Produkt sei nichts Neues. Gerade bei Autos sei es immer Kommunikation über etwas Abwesendes. «Auto ist ein Gefühl.»
Und auch wenn angesichts der Kritik gerade im Netz von einem Shitstorm die Rede ist, sieht der Professor keine Gefahr für Jaguar. Es werde sich über die Werbung und die Ästhetik unterhalten, sagt er. «Schlimmer wäre es für Jaguar, wenn die Leute über die Qualität des Motors diskutieren würden oder den Sinn von Individualverkehr.» Das könnte eher eine ernsthafte Bedrohung werden.