15.000 Ermittlungen zu Kriegsverbrechen

Wenn die Front Tatort wird 

Gerichtsmediziner und Polizisten untersuchen die Leichen von Anwohnern, nachdem sie sie aus einem Massengrab am Rande von Kiew gehoben haben. Foto: Evgeniy Maloletka
Gerichtsmediziner und Polizisten untersuchen die Leichen von Anwohnern, nachdem sie sie aus einem Massengrab am Rande von Kiew gehoben haben. Foto: Evgeniy Maloletka

DEN HAAG: Morde, Vergewaltigungen, Angriffe auf Krankenhäuser: Kriegsverbrechen in der Ukraine entsetzen die Welt. Internationale Ermittler untersuchen. Doch der Weg zur Gerechtigkeit ist schwierig.

Die Städte Butscha und Mariupol sind im Ukraine-Krieg für viele zu Symbolen des Schreckens geworden: Nach dem Abzug russischer Truppen wurden Gräueltaten bekannt: Ermordete Menschen in den Straßen, Massengräber, Vergewaltigungen, Angriffe auf Krankenhäuser. Der Ruf nach Gerechtigkeit ist laut. Doch der Weg dorthin ist mühsam.

Die Justiz reagierte schnell. Kaum 100 Tage nach der russischen Invasion wurden bereits drei Urteile gesprochen. Am Dienstag wurden zwei russische Soldaten in Gebiet Poltawa zu langen Haftstrafen verurteilt. Sie hatten zivile Gebäude beschossen. In der vergangenen Woche war ein 21 Jahre alter Soldat wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden.

In mehr als 15.000 Fällen leitete die Justiz der Ukraine nach eigenen Angaben bereits Ermittlungen zu Kriegsverbrechen ein. Insgesamt seien 80 Verdächtige in Gewahrsam, sagte Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa am Dienstag in Den Haag. Mehr als 600 Verdächtige - darunter hohe Militärs und Politiker - seien im Visier der Behörden. «Täglich kommen 200 bis 300 neue Fälle von Kriegsverbrechen hinzu.»

Die Chefankläger der Ukraine, Polen, Litauen und des Internationalen Strafgerichtshofes gehören einem gemeinsamen Ermittlerteam zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen in der Ukraine an. Auch Lettland, Estland und Slowakei sind seit Dienstag mit von der Partie. Die Arbeit wird von der EU-Justizbehörde Eurojust koordiniert.

Der Chefankläger des Weltstrafgerichts, Karim Khan, hatte Mitte Mai die größte Gruppe an Ermittlern ins Kriegsgebiet geschickt, die der Gerichtshof je entsandt hat. Nun will er nach eigenen Angaben in wenigen Wochen ein eigenes Büro in Kiew eröffnen. In 17 weiteren Ländern laufen ebenfalls Untersuchungen.

Die Tatkraft ist groß, das Tempo rasant - doch die Ermittlungen sind komplex. Denn der Tatort ist zugleich Kriegsgebiet. «Ermittlungen sind sehr schwierig, wenn gleichzeitig noch gekämpft wird», sagte die ukrainische Generalstaatsanwältin.

Auch die Zusammenarbeit der Justizbehörden ist einzigartig. «Wir müssen Partnerschaften bilden, gerade bei Verbrechen in dieser Größenordnung», sagte Chefankläger Khan. Bei Eurojust wird nun eine zentrale Datenbank für Beweise eingerichtet. Dabei geht es um DNA-Material, Fotos, Videos, Audio-Dateien, Satellitenaufnahmen und Zeugenaussagen. Die EU-Justizbehörde will dafür sorgen, dass das Material den Mitgliedern des Ermittler-Teams zur Verfügung gestellt und übersetzt wird. Dieser Krieg wird Eurojust zufolge «der am besten dokumentierte bewaffnete Konflikt in der Geschichte.»

Die Beweise sollen dann zu Prozessen führen - in der Ukraine oder anderen europäischen Staaten. Das Weltstrafgericht mit Sitz in Den Haag könnte Prozesse gegen hochrangige Verdächtige wie Offiziere und Politiker führen. Das Gericht tritt dann auf den Plan, wenn ein betroffenes Land dazu selbst nicht in der Lage ist oder es nicht will. Allerdings hat es keine Polizeimacht, um Verdächtige festzunehmen.

Dann ist da noch die Frage, ob der russische Präsident Wladimir Putin jemals vor Gericht kommt? Er wird vielfach beschuldigt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem Genozid und macht dafür persönlich Putin verantwortlich. Auch US-Präsident Joe Biden nannte Putin einen «Kriegsverbrecher». Russland weist die Vorwürfe zurück. Putin hatte selbst die Ukraine des Völkermords bezichtigt und damit den Einmarsch gerechtfertigt.

Zu einem möglichen Prozess gegen Putin wollten sich die Ermittler nicht äußern. Das ist auch nicht aktuell. Klar ist, dass die Beweisführung schwieriger wird, je höher der Rang ist oder die Funktion. Eines ist aber sicher: Auch ein Präsident könnte sich nicht auf Immunität durch sein Amt berufen.

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