UN-Generaldebatte startet in New York

​Weltbühne für Selenskyj

Tagung der Generalversammlung der Vereinten Nationen zu den Russland-Ukraine-Resolutionen. Foto: epa/Justin Lane
Tagung der Generalversammlung der Vereinten Nationen zu den Russland-Ukraine-Resolutionen. Foto: epa/Justin Lane

NEW YORK/MOSKAU/BERLIN: Unter dem Eindruck des brutalen Ukraine-Kriegs reisen die Staats- und Regierungschefs der Welt zur UN nach New York. Der Westen mit Neuling Olaf Scholz will Putin dort in die Enge treiben. Doch diplomatische Vorstöße und Überraschungen am East River sind nicht ausgeschlossen.

Vor einem Jahr trat Wolodymyr Selenskyj staatsmännisch im dunklen Anzug auf das weltbekannte UN-Podium. Vor dem grünen Marmor der Vollversammlung in New York stehend sagte der ukrainische Präsident: «Niemand fühlt sich mehr sicher auf dieser Welt». Damals, bei der letzten Generaldebatte, schien die großangelegte Invasion Russlands in die Ukraine undenkbar.

Doch der damals deutlich jünger wirkende Selenskyj warnte bereits: Die Architektur der Internationalen Beziehungen könnte implodieren. «Und dann haben wir am Ende keine Regeln, sondern nur die Herrschaft der rohen Gewalt». Zwölf Monate später sind die Befürchtungen für die Ukraine brutale Realität geworden. Bei der am Dienstag startenden Generaldebatte wird Selenskyj wieder sprechen - als Kriegspräsident.

Der größte Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg - die von Bundeskanzler Olaf Scholz betitelte «Zeitenwende» - gefährdet nicht nur die Existenz der Ukraine, sondern auch die globale Stabilität. «Die geostrategischen Gräben sind so groß wie seit mindestens dem Kalten Krieg nicht mehr», klagt UN-Generalsekretär António Guterres.

Der Krieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin und seine Auswirkungen, zum Beispiel die Folgen für die weltweite Versorgung mit Nahrung, wird die Reden, Treffen am Rande und etwaige diplomatische Vorstöße in New York dominieren. «Business as usual» dürfe es nicht geben, sagt eine Diplomatin.

Umso wichtiger sollte das weltweit größte Treffen seiner Art - neulich von einem UN-Wachmann als «Super Bowl der Diplomatie» bezeichnet - in diesem Jahr sein. In der ersten wieder fast normalen Konferenz seit der Pandemie haben sich mehr als 140 Staats- und Regierungschefs angekündigt, um eine Woche lang ihre Sicht auf die globale Lage darzulegen - wobei das am Montag geplante Staatsbegräbnis der Queen die Planung durcheinander wirbelte.

Unter den Gästen sind US-Präsident Joe Biden, Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Staatsoberhaupt Emmanuel Macron oder die neue britische Regierungschefin Liz Truss. Für Russland kommt in Abwesenheit von Putin Außenminister Sergej Lawrow. China wird durch Außenminister Wang Yi vertreten.

Dabei werden die übrigen Krisen der Welt - zum Beispiel das Klima, die nach Covid stockende Entwicklung, globale wirtschaftliche Turbulenzen sowie die Konflikte in Mali, Libyen oder dem Jemen - in den Hintergrund treten. Das stört Aktivistinnen und Aktivisten genauso wie Vertreter aus dem sogenannten globalen Süden zunehmend.

In den vergangenen Wochen sei eine allmähliche Ukraine-Müdigkeit bei afrikanischen und lateinamerikanischen UN-Mitgliedsstaaten zu beobachten gewesen, sagt Richard Gowan vom Thinktank Crisis Group. «Wenn ich Selenskyj wäre, wäre ich ein bisschen vorsichtig, weil ich nicht glaube, dass Selenskyj bei der UN unbedingt die überaus positive Resonanz bekommen wird, die er in westlichen Foren erwarten könnte». Nicht alle Staaten wollten Russland ständig angreifen.

Angeführt von Biden wird es für den Westen aber trotzdem vor allem darum gehen, Putin vom Weltpodium aus in die Ecke zu drängen. Das Highlight der Woche dürfte am Mittwoch die Ansprache Selenskyjs nach der von Biden werden. Eine für möglich gehaltene Reise Selenskyjs nach New York schien nach einer Ausnahmegenehmigung für eine Video-Ansprache zuletzt unwahrscheinlicher. Ganz ausgeschlossen ist jedoch nichts. Sicher ist, dass Außenminister Dmytro Kuleba aus Kiew anreist.

Ob es am Rande der Vollversammlung Fortschritte in Richtung Frieden geben könnte, ist dabei sehr fraglich. Kiew sieht die Dynamik auf dem Schlachtfeld auf seiner Seite und will weiter vorrücken. Sowohl Guterres als auch Scholz hatten sich zuletzt nach Telefonaten mit Putin pessimistisch geäußert. Der Bundeskanzler sagte nach seinem 90-minütigen Gespräch: «Leider kann ich Ihnen nicht sagen, dass dort jetzt die Einsicht gewachsen ist, dass das ein Fehler war, diesen Krieg zu beginnen». Stattdessen könnte es Versuche geben, in Einzelbereichen voranzukommen - zum Beispiel bei der Beruhigung der Kämpfe um das AKW Saporischschja.

Russlands Diplomaten rieben sich derweil schon vor ihrer Reise auf, weil sie darum kämpfen müssen, überhaupt in geplanter Delegationsstärke antreten zu dürfen. Viele russische Beamte sind von den USA mit Reiseverboten belegt. Erleichterung bei den Russen herrscht nun zwar, weil Lawrow einreisen darf. Allerdings kritisierte Sprecherin Maria Sacharowa, dass noch immer Pässe russischer Diplomaten in der US-Botschaft lägen.

Lawrow sei als Gesprächspartner bei der Vollversammlung gefragt, betonte Sacharowa. Etwa 20 Treffen seien schon angesetzt, darunter auch das traditionelle der Außenminister der Brics-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) und mit Guterres. Vor allem aber schätzt Moskau das universelle Format der UN, um seine Position zum Krieg in der Ukraine darzulegen - das ist in den vergangenen Wochen immer wieder deutlich geworden. Einmal mehr dürfte Russland darüber klagen, dass es wegen der Sanktionen des Westens weder Getreide noch Düngemittel in gewünschtem Umfang exportieren kann.

Selenskyjs wahrscheinlichen Auftritt per Video hätte Moskau gerne verhindert. Russland höhnt seit langem, dass Selenskyj zwar ein «guter Schauspieler» sei, der Texte vortragen könne und das Videoformat beherrsche, aber kein Politiker, der sich Debatten stelle. Die UN-Generalversammlung werde an ein «Kinotheater» erinnern, ätzte der Vize-UN-Botschafter Dmitri Poljanski.

Für Olaf Scholz ist es gut neun Monate nach seiner Vereidigung der Antrittsbesuch bei den Vereinten Nationen. Mit diplomatischen Initiativen mit Blick auf Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine ist vom Kanzler nicht zu rechnen - anders als vielleicht von Guterres, dem als Vermittler auftretenden türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan oder auch Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron. Guterres und Erdogan hatten die bislang bedeutendsten Übereinkünfte im Krieg vermittelt - vor allem das Getreideabkommen.

Das Thema Waffenlieferungen wird dem Kanzler dabei über den Atlantik folgen, doch Scholz wird bei seiner bisherigen Linie bleiben: Entscheidungen gibt es niemals im Alleingang, sondern nur mit den Bündnispartnern zusammen. Und auch die zeigen derzeit keine Bereitschaft, etwa Kampfpanzer zu liefern.

Die Rede des Kanzlers am Dienstagabend wird ganz im Zeichen der «Zeitenwende» stehen. Scholz will den Angriff klar als Völkerrechtsbruch benennen und russischer Propaganda entgegentreten. Außerdem wird er seinen Besuch in New York nutzen, um in die Zukunft zu schauen: Am East River will er eine Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine vorbereiten. Sie soll am 25. Oktober in Berlin stattfinden.

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