Was bedeutet der Kriegswinter für die Ukraine?

Ein schneebedeckter beschädigter Panzer am Rande des zurückeroberten Dorfes Tsyrkuny in der Region Charkiw. Foto: EPA-EFE/Sergey Kozlov
Ein schneebedeckter beschädigter Panzer am Rande des zurückeroberten Dorfes Tsyrkuny in der Region Charkiw. Foto: EPA-EFE/Sergey Kozlov

KIEW: Der erste Schnee ist gefallen, die Temperaturen sind unter den Gefrierpunkt gesackt. Die russischen Truppen beschießen derweil weiter ukrainische Städte. Welche Auswirkungen hat der Winter auf das Leben der Bevölkerung und den Fortgang des Kriegs in der Ukraine?

Die russische Armee hat die Energieversorgung der Ukraine massiv beschädigt. Viele Haushalte sind bei eisigen Temperaturen zeitweise oder sogar komplett ohne Heizung, Strom und Wasser. Moskau rechtfertigt dies damit, dass die Infrastruktur vom ukrainischen Militär genutzt werde. Derweil steht der Winter vor der Tür. Wie werden sich Stromnotstand und Kälte auf die weitere Entwicklung auswirken? Ein Überblick.

Wie ist die Energiesituation zum Winterbeginn?

Nach der Serie russischer Raketenangriffe auf das Stromnetz kämpft die Ukraine mit massiven Stromausfällen. Viele Haushalte erhalten nur noch maximal acht Stunden Strom täglich. Laut Netzbetreiber Ukrenerho fehlt landesweit mehr als ein Viertel und in Kiew mehr als ein Drittel der nötigen Strommenge. Importe aus dem Westen decken dabei höchstens zehn Prozent des Bedarfs. Zugleich versucht Ministerpräsident Denys Schmyhal zu beruhigen: 14 Milliarden Kubikmeter Erdgas und 1,3 Millionen Tonnen Kohle an Reserven reichten aus, um das Land mit Elektrizität und Fernwärme zu versorgen. Über 50 Prozent des Strombedarfs werden ohnehin durch die Atom- und Wasserkraftwerke gedeckt.

Kann sich das Land mit Lebensmitteln versorgen?

Bisher haben die Attacken nicht zu Versorgungslücken geführt. Geschäfte und Märkte sind bis auf die frontnahen Gebiete gut gefüllt. Aufgrund von Arbeitslosigkeit und einer Inflationsrate von 26,6 Prozent im Oktober können sich aber immer weniger Ukrainer Lebensmittel und andere Produkte des täglichen Bedarfs leisten. Besonders hart trifft es einkommensschwache Gruppen. Die Durchschnittsrente der etwa elf Millionen Rentner liegt bei umgerechnet 120 Euro. Die Mehrzahl von ihnen muss jedoch mit monatlich nicht mehr als 75 Euro überleben und ist auf Hilfen von Verwandten oder Hilfsorganisationen angewiesen.

Wird es eine neue Treibstoffkrise in der Ukraine geben?

Wegen der ständigen unvorhersehbaren Stromausfälle nutzen Ukrainer massiv Stromgeneratoren. Die Regierung hat den Import durch eine Zollbefreiung stimuliert. Im Nahverkehr wurden die Oberleitungsbusse und Straßenbahnen durch dieselbetriebene Busse ersetzt. Die Eisenbahn setzt vermehrt Dieselloks ein. An den Tankstellen kam es erneut ähnlich wie zu Kriegsbeginn und im Frühling zu langen Schlangen. Die Nachfrage nach Benzin und Diesel ist kurzzeitig um über 30 Prozent gestiegen. Dem von Treibstoffimporten abhängigen Land drohen bei neuen Luftschlägen auf das Stromnetz erneut leere Tankstellen. Das dürfte auch Auswirkungen auf die allgemeine Versorgungslage haben.

Ist eine neue Flüchtlingswelle zu erwarten?

Im Hinterland haben sich die Bewohner bereits auf Raketenangriffe und Stromausfälle eingestellt. An der Front ist vorerst nicht mit russischen Durchbrüchen zu rechnen, die eine neue Fluchtwelle auslösen könnten. Sollten neue russische Luftschläge aber zu irreparablen Blackouts und Heizungsausfällen führen, könnten viele Ukrainer in die EU fliehen - insbesondere, wenn das aktuelle Frostwetter in der Ukraine länger anhält. Ende kommender Woche sollen die Temperaturen aber deutlich ins Plus steigen. Die Winter in den vergangenen Jahren waren zudem selbst im Januar und Februar recht mild. Kiew hat dazu landesweit mit der Einrichtung von Aufwärmpunkten in Schulen, Kindergärten und großen Zelten begonnen, die auch mit Stromgeneratoren und teils Internet ausgerüstet wurden.

Wie kann die Ukraine die Front im Winter versorgen?

Kälte ist der Feind des Soldaten. Verletzungen und Ausfall der Technik werden allein aufgrund der Wetterbedingungen zunehmen. Auch die Versorgung ist schwerer: Die Soldaten brauchen mehr Verpflegung, mehr Brennstoff, wärmere Kleidung als im Sommer. Aufrufe - auch an den Westen - zur Lieferung von Winterkleidung und Brennstoff gab es. Es ist aber noch unklar, ob die Vorbereitung ausreichend war. Im Gegensatz zum schlammigen Herbst bietet tiefgefrorenes Gelände immerhin die Möglichkeit, auch abseits der Straßen die Truppen zu versorgen. Große Transporte über die Eisenbahn sind aber durch die russischen Raketenschläge eingeschränkt.

Welche Auswirkungen wird der Winter auf die Kriegsführung haben?

Im Winter wird die derzeitige operative Pause durch den Herbstschlamm vermutlich beendet. Für die Ukraine, die auf schnelle Vorstöße setzt, ergeben sich wieder bessere Voraussetzungen, ihre Taktik umzusetzen. Während die Russen immer noch überlegene Feuerkraft haben, sind die Ukrainer in der Manövrierfähigkeit überlegen. Wichtig wird allerdings sein, welche Seite ihre Soldaten und Technik besser für den Winter ausgerüstet hat. Die meisten Beobachter sehen die Ukraine hier vorn.

Kann Russland aus der gezielten Bombardierung von Energieobjekten tatsächlich militärischen Nutzen schlagen?

Ein zynisches Kalkül der Luftschläge besteht darin, die ukrainische Bevölkerung gegen die Regierung aufzubringen, was sich auch auf die Kampfmoral der kämpfenden Soldaten auswirken soll. Der Dauerbeschuss zielt zudem darauf ab, die Ressourcen der ukrainischen Luftabwehr zu schwächen, die sich auf viele Punkte konzentrieren muss. Daneben schaffen die Blackouts auch bei der Versorgung der Armee und der Truppenverlegung Schwierigkeiten. Die Bahn ist teilweise lahmgelegt. Die Produktion von Munition und Kriegswaren wird ebenfalls behindert. Allerdings haben während des Kriegs die Bedürfnisse der Front Vorrang. Die wenigen vorhandenen Stromkapazitäten werden für kriegswichtige Einrichtungen reserviert. Der Nutzen eines solchen Bombardements ist also aus rein militärischer Sicht begrenzt.


Kriegswinter: UNHCR rechnet mit mehr Vertriebenen in der Ukraine

BERLIN: Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) rechnet wegen des anhaltenden russischen Angriffskriegs eher mit einer Zunahme der Vertreibung innerhalb der Ukraine als mit einer großen Fluchtbewegung in Richtung der EU-Staaten. «Das wahrscheinlichste Szenario ist eine weitere Vertreibung innerhalb der Ukraine», sagte UNHCR-Chef Filippo Grandi in einem am Sonntag veröffentlichten Interview mit dem «Spiegel». «Ich hoffe, dass es keine weitere große Flüchtlingsbewegung geben wird.» Gleichzeitig schränkte er ein: «Aber Krieg ist unberechenbar.»

Ihn beunruhige, dass diejenigen, die jetzt noch ins Ausland fliehen könnten, höchstwahrscheinlich mehr Unterstützung bräuchten. «Diejenigen, die bisher in der Ukraine geblieben sind, hatten entweder weniger Kontakte in Europa oder waren weniger mobil», sagte Grandi dem «Spiegel» weiter. Er zeigte sich zuversichtlich, dass die Staaten der EU bei Bedarf auch zusätzliche Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen könnten. «Europa kann der Herausforderung noch eine Weile standhalten», sagte er. Mit Blick auf den Winter sagte Grandi: «Anders als im Frühjahr werden diesmal mehr öffentlich betriebene Unterkünfte nötig sein, und dafür werden Mittel benötigt.» Daher sollten Länder wie Polen und Tschechien, die eine besonders große Last zu tragen hätten, finanziell unterstützt werden, forderte er.

Angesichts des Winterwetters und anhaltender russischer Angriffe auf die zivile Infrastruktur des Landes - insbesondere auf Einrichtungen der Strom- und Wärmeversorgung - gab es zuletzt immer wieder Befürchtungen, dass nun viele weitere Ukrainer in die EU fliehen könnten. Dahingehend äußerte sich am Sonntag zum Beispiel auch der deutsche Botschafter in London, Miguel Berger. «Wir sind darüber sehr besorgt, denn diese Angriffe auf die Energieinfrastruktur bedeuten, dass viele Menschen in den eiskalten Temperaturen dazu gezwungen sein könnten, die Ukraine zu verlassen.» Der Diplomat sagte dem britischen TV-Sender Sky News weiter: «Wir erwarten einen weiteren Schwung an Flüchtlingen in den kommenden Wochen.»

Russlands Einmarsch in die Ukraine Ende Februar hat dem UNHCR zufolge zur größten Vertreibung von Menschen seit Jahrzehnten geführt. Erst Anfang November hatte Grandi in New York gesagt, rund 14 Millionen Menschen seien seit Kriegsbeginn aus ihren Häusern vertrieben worden. Knapp acht Millionen haben dem UNHCR zufolge im Ausland Schutz gesucht, davon eine Million in Deutschland.

UNHCR-Chef Grandi lobte ausdrücklich «die derzeitige europäische Politik der nachhaltigen Gastfreundschaft» gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen. Sie hätten direkt Zugang zu den Sozialsystemen und dürften arbeiten. «Jahrelang wurden solche Ansätze für schlecht oder für nicht umsetzbar gehalten. Aber in Wirklichkeit haben sie den Druck auf Regierungen und Gesellschaften verringert, weil sie einen gewissen Selbstregulierungsmechanismus geschaffen haben», so Grandi.

Ãœberzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.