Bidens Gipfel mit Putin am Genfersee

​«Warten auf ein Wunder»

Der Schweizer Bundespräsident Guy Parmelin (L) und Bundesrat Ignazio Cassis äußern sich während einer Pressekonferenz nach einem Treffen mit dem US-Präsidenten in Genf. Foto: epa/Cyril Zingaro
Der Schweizer Bundespräsident Guy Parmelin (L) und Bundesrat Ignazio Cassis äußern sich während einer Pressekonferenz nach einem Treffen mit dem US-Präsidenten in Genf. Foto: epa/Cyril Zingaro

GENF: US-Präsident Biden und Kremlchef Putin treffen sich am Genfersee zu ihrem ersten Gipfel. Einigkeit gibt es in einem Punkt: Die Beziehungen sind am Tiefpunkt. Auch wenn beide Seiten die Erwartungen an das Treffen dämpfen - erreichen könnten sie einiges.

Joe Bidens erste Europareise als US-Präsident ist von demonstrativer Harmonie geprägt. Erst der Gipfel mit den G7-Staaten, dann der mit der Nato, am Dienstag das Treffen mit den EU-Spitzen. Wenn Biden bei seiner letzten Station an diesem Mittwoch in Genf den russischen Präsidenten Wladimir Putin trifft, wird mit der Einmütigkeit Schluss sein. In der herrschaftlichen Villa La Grange mit Blick auf den Genfersee wollen die Anführer der beiden größten Atommächte über eine Vielzahl an Streitthemen sprechen. In einem Punkt zeigen sie sich davor einig: dass das bilaterale Verhältnis an einem «Tiefpunkt» angelangt ist.

Vier bis fünf Stunden sind angesetzt von 13.00 Uhr an und mit Pausen, wie der Kreml vorab mitteilte. Der US-Präsident kommt frisch aufgeladen von seinen Treffen mit seinen Kollegen der «freien Welt» - und will in Genf dem als zunehmend autoritär kritisierten Kremlchef die Stirn bieten. Der im eigenen Land inzwischen mit einer beispiellosen Machtfülle ausgestattete Putin meldet sich seit Tagen in Interviews zu Wort und signalisiert Bereitschaft für eine Normalisierung der «nicht zufriedenstellenden Lage».

EIN «WÜRDIGER GEGNER» UND DIE «ROTEN LINIEN»

Bidens erklärtes Ziel: eine «stabile, vorhersehbare Beziehung». Nach dem Nato-Gipfel nennt er Putin am Montagabend einen «würdigen Gegner». «Ich werde Präsident Putin zu verstehen geben, dass es Bereiche gibt, in denen wir zusammenarbeiten können, wenn er sich dafür entscheidet», sagt Biden. «Und in den Bereichen, in denen wir nicht übereinstimmen, klarmachen, was die roten Linien sind.»

Putin hat sich wochenlang Zeit gelassen, bis er dem Angebot Bidens für ein Gipfeltreffen zustimmte - wohl auch, weil der US-Präsident die Frage eines Journalisten bejahte, ob er den Kremlchef für einen «Killer» halte. In demselben Interview im März erzählte Biden (78) freimütig von einer früheren Begegnung mit Putin, bei dem er ihm gesagt habe: «Ich glaube nicht, dass Sie eine Seele haben.»

Der 68-jährige Kremlchef hätte sich gerne vor laufenden Kameras einen Schlagabtausch geliefert. Angesichts des unglücklichen Bildes, das US-Präsident Donald Trump 2018 in Helsinki auf einer Pressekonferenz mit Putin abgab, verzichtet die US-Seite nun aber auf einen solchen Auftritt. Mit den Journalisten reden Putin und Biden nach ihrem Treffen getrennt.

BIDEN HOLT SICH RÜCKENDECKUNG IN EUROPA

Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan hätte sich wohl kaum einen besseren Rahmen für das Treffen vorstellen können, das er mit dem Sekretär des russischen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, vorbereitet hat. Bei Gipfeln mit der Gruppe sieben wichtiger Industriestaaten (G7), mit der Nato und mit der EU sichert sich der neue US-Präsident die Rückendeckung der Verbündeten, bevor er mit Putin in den Ring steigt.

Biden dürfte in Genf eine ganze Palette an Streitpunkten vorbringen: Aus Sicht der Amerikaner ist Moskau verantwortlich für Cyberangriffe in den USA und für die Einmischung in US-Wahlen. Auch der Konflikt in der Ukraine wird auf der Tagesordnung stehen. Neben weiteren Themen will Biden zudem die Menschenrechtslage in Russland und die Vergiftung und Inhaftierung des Kremlkritikers Alexej Nawalny ansprechen.

MOSKAU WILL «KEINE BELEHRUNG»

Der Kreml warnt angesichts der Vielzahl von Problemen aber fast täglich vor allzu hohen Erwartungen an das Treffen. Russland sei zwar bereit zur Zusammenarbeit, aber nicht um jeden Preis, heißt es in Moskau. Die Führung des Riesenreichs wünscht sich ein Treffen mit «Respekt auf Augenhöhe, aber keine Belehrung» in Fragen der russischen Staatsführung.

Als ein mögliches wichtiges Ergebnis in Genf gilt die Rückkehr der jeweiligen Botschafter nach Moskau und Washington. Russland hatte seinen Botschafter wegen der «Killer»-Äußerung über Putin abgezogen und später den US-Botschafter im Zuge neuer «antirussischer Sanktionen» aufgefordert, in seine Heimat zurückzukehren. Auch ein Austausch von in den USA verurteilten russischen Staatsbürgern und in Russland inhaftierten US-Bürgern gilt als möglich.

«VERHÄLTNIS BEIDER LÄNDER IN TRÜMMERN»

Es gehe in Genf um die «Reparatur einer Konfrontation», meint der prominente russische Politologe Fjodor Lukjanow. Das Treffen könne nach den auch für Russland «chaotischen Jahren» unter Bidens «unberechenbarem» Vorgänger Trump richtungsweisend sein, um sich auf gemeinsame Interessen festzulegen. «Trotz einer gegenseitigen Neugier, die Trump und Putin füreinander zeigten, liegt das Verhältnis beider Länder in Trümmern», sagt der Chefredakteur der Moskauer Fachzeitschrift «Russland in der globalen Politik». «Alle warten auf ein Wunder.»

Es wäre aus Sicht Lukjanows schon ein großer Erfolg, wenn die beiden Atommächte einen neuen Abrüstungsvertrag und eine Kontrolle der Waffenarsenale anstoßen könnten. Bei den Fragen der strategischen Stabilität in der Welt hätten Moskau und Washington schon im Kalten Krieg Erfolge erzielt. Die USA kündigten zuletzt mehrere Verträge aus jener Zeit, verlängerten aber in letzter Minute zumindest das wichtige New-Start-Abkommen über atomare Abrüstung.

GENF UND DER WENDEPUNKT IM KALTEN KRIEG

Als Tagungsort hat Genf bereits früher eine wichtige Rolle in den amerikanisch-russischen Beziehungen gespielt. Im November 1985 kamen dort die damaligen Präsidenten Ronald Reagan und Michail Gorbatschow zusammen, ihr Gipfel gilt als Wendepunkt des Kalten Krieges. Durchbrüche historischer Art sind aber diesmal nicht zu erwarten, wie das Weiße Haus und auch der Kreml einmütig deutlich machen.

Experten sehen teils ähnliche Interessen beim Klimaschutz, bei der Nutzung der Ressourcen in der Arktis, bei der Zusammenarbeit an Bord der Internationalen Raumstation ISS, bei der Lage in Afghanistan, in Libyen und bei den umstrittenen Atomprogrammen im Iran und in Nordkorea. Für Biden geht es jedoch um mehr als um die einzelnen Konflikte.

WETTSTREIT DER SYSTEME

Der US-Präsident betont immer wieder, dass die Demokratien der Welt im Wettstreit mit autoritären Systemen stünden und sich darin beweisen müssten. «Russland und China versuchen beide, einen Keil in unsere transatlantische Solidarität zu treiben», betont Biden in Brüssel. Beim G7-Gipfel sagt er mit Blick auf sein Treffen mit Putin: «Es gibt keine Garantie dafür, dass man das Verhalten einer Person oder das Verhalten ihres Landes ändern kann. Autokraten haben enorme Macht und müssen sich nicht vor einer Öffentlichkeit verantworten.»

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