Vorbilder auf Abwegen - Wenn Politiker Corona-Regeln brechen

In der Oxford Street in London trägt eine Schaufensterpuppe eine Union Jack-Maske und ein Visier. Foto: epa/Neil-saal
In der Oxford Street in London trägt eine Schaufensterpuppe eine Union Jack-Maske und ein Visier. Foto: epa/Neil-saal

LONDON: Abstand, Maske, Händewaschen - der Corona-Alltag besteht aus Regeln und Verboten. Ihre Einhaltung kann über Leben und Tod bestimmen. Kompliziert wird es, wenn nicht einmal die Regierenden sie befolgen.

Mehr als 600 Kilometer Zugstrecke liegen zwischen London und dem schottischen Glasgow. 600 Kilometer zu viel für jemanden, der positiv auf Corona getestet wurde. Dass sich die schottische Abgeordnete Margaret Ferrier mit Corona-Symptomen auf den Weg nach London machte, dort im Parlament sprach und nach einem positiven Test sogar wieder den Zug zurück nach Glasgow nahm, sorgt im politischen London für Entsetzen. Ferriers Handeln sei «völlig rücksichtslos», empörte sich der Sprecher des Unterhauses, Lindsay Hoyle, der sonst nicht für übersprudelndes Temperament bekannt ist.

Ferrier reiht sich ein in eine immer länger werdende Liste von Politikern, die es mit den Corona-Regeln nicht so genau nehmen. So verlor der irische EU-Handelskommissar Phil Hogan sein Amt, nachdem er im Sommer bei einem Golfclub-Dinner mit rund 80 Teilnehmern erwischt worden war. Der britische Regierungsberater Dominic Cummings sorgte mit Kurztrips im Lockdown für Schlagzeilen, während der österreichische Bundespräsident Alexander van der Bellen beim «Verplaudern» die Corona-Sperrstunde vergaß und der niederländische Justizminister Ferdinand Grapperhaus inmitten der Pandemie ohne Masken und Abstand seinen Hochzeitstag feierte.

Gleichzeitig werden Politiker in aller Welt nicht müde, die Bürger zu Abstand, Hygiene und Vorsicht zu ermahnen. «Die Regeln werden nur funktionieren, wenn sich alle daran halten», betonte der britische Premier Boris Johnson in derselben Woche, in der man seinen eigenen Vater ohne Maske im Supermarkt fotografierte. Und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier tadelte die Teilnehmer der Berliner Demonstration gegen Corona-Maßnahmen mit den Worten «Die Verantwortungslosigkeit einiger Weniger ist ein Risiko für uns alle» - sah sich aber bald darauf zu einer öffentlichen Entschuldigung gezwungen, weil er selbst bei einem Gruppenfoto im Südtirol-Urlaub auf Maske und gebührenden Abstand verzichtet hatte.

«Politiker stehen gerade in diesen schwierigen Zeiten im Rampenlicht und haben eine wichtige Vorbildfunktion», sagt der Sozialpsychologe Andreas Glöckner von der Uni Köln. Sie könnten erwünschtes Verhalten vorleben - «aber auch Verletzungen der Regeln finden besondere öffentliche Beachtung.»

Kein Politiker brach die Corona-Etikette wohl so konsequent wie Donald Trump. Der US-Präsident lässt sich nicht nur ungern mit Gesichtsmaske blicken. Er machte sich auch darüber lustig, dass Joe Biden, sein Herausforderer bei der US-Präsidentenwahl, so häufig Mund und Nase verhülle. Trump verließ sich im Weißen Haus allein auf Tests. Infolgedessen wurde eine Veranstaltung im Weißen Haus Ende September zu einem Superspreader-Event - zahlreiche Teilnehmer wurden später positiv getestet, darunter Trump selbst und seine Frau Melania.

Nach drei Tagen im Militärkrankenhaus und einer experimentellen Vorzugsbehandlung durch Top-Ärzte präsentiert sich Trump nun als Bezwinger des Virus: «Haben Sie keine Angst vor Covid», forderte er seine Landsleute auf, von denen Millionen nicht einmal eine Krankenversicherung haben. «Lassen Sie es nicht Ihr Leben dominieren.»

Am Beispiel des feiernden holländischen Justizministers, der Regelbrecher noch als «asozial» bezeichnet hatte, lässt sich beobachten, welche Auswirkungen solche Missachtungen haben können. Viele Landsleute waren empört, weil Grapperhaus im Amt bleiben durfte und mit einer Geldstrafe davonkam. 20 Prozent der Niederländer erklärten in Umfragen, sie würden es nun mit den Corona-Regeln auch nicht mehr so genau nehmen. Die Ordnungshüter verteilen laut ihrer Gewerkschaft seit dem Vorfall deutlich weniger Knöllchen an andere Corona-Regelbrecher. «Es ist kompliziert zu erklären, warum Leute eine Corona-Buße bekommen können, wenn sich der verantwortliche Minister selbst nicht an die Regeln hält», so ein Sprecher.

Der Psychologe Glöckner führt solche Reaktionen auf das Phänomen der «Dissonanz» zurück: «Ein gemeinsames Auftreten von Aussagen wie «Es ist wichtig, sich an die Regeln zu halten» und widersprechenden Verhaltensweisen erzeugt beim Zuhörer ein unangenehmes Gefühl der Unstimmigkeit», erklärt der Wissenschaftler. «Solche Verhaltensweisen können also durchaus zu einer Reduktion des Vertrauens in Regeln führen.» Ob sich jemand selbst daran halte, liege jedoch auch noch an vielen anderen Faktoren - etwa daran, wie jemand zu staatlichen Institutionen stehe oder ob er an Verschwörungstheorien glaube.

Die Forscher Shaun Bowler und Jeffrey Karp untersuchten bereits im Jahr 2004, wie politische Skandale das Vertrauen der Bevölkerung in Institutionen beeinflussen. «Wenn Politiker wirklich über das schwindende Vertrauen der Öffentlichkeit besorgt sind, ist vermutlich die leichteste Lösung, ihr eigenes Benehmen zu ändern», schrieben die Forscher in der Fachzeitschrift «Political Behavior». Wähler tendierten dazu, skandalträchtiges Verhalten stärker zu bestrafen als sie vorbildliches Handeln honorierten.

Im Umkehrschluss heißt das jedoch nicht, dass alles rund läuft, wenn nur die Skandale ausbleiben: In Deutschland, Spanien, Skandinavien, Frankreich und Italien sind kaum größere Vergehen der politischen Eliten bekannt - die Corona-Fallzahlen und Einschränkungen im öffentlichen Leben unterscheiden sich aber sehr deutlich.

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