Von der Leyen: «Machen wir Europa stark»

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hält ihre erste Rede zur Lage der Nation bei einer Plenarsitzung des Europäischen Parlaments in Brüssel. Foto: epa/Olivier Hoslet
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hält ihre erste Rede zur Lage der Nation bei einer Plenarsitzung des Europäischen Parlaments in Brüssel. Foto: epa/Olivier Hoslet

BRÜSSEL: Premiere für Ursula von der Leyen: Zum ersten Mal seit Amtsantritt hält die EU-Kommissionschefin die traditionelle Rede zur Lage der Europäischen Union. Natürlich geht es um die Folgen der verheerenden Corona-Krise - aber von der Leyen spannt den Bogen deutlich weiter.

Mehr Klimaschutz, mehr Gemeinsamkeit in der Gesundheitspolitik und endlich eine Asylreform: EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat am Mittwoch in einer Rede zur Lage der Europäischen Union ihre Vision für die kommenden Jahre vorgestellt und dabei auch umstrittene Vorschläge gemacht. «Es liegt an uns, welches Europa wir wollen», sagte die deutsche Politikerin. «Reden wir Europa nicht schlecht. Arbeiten wir lieber daran. Machen wir Europa stark.» Wie das gelingen soll - ein Überblick:

EIN EHRGEIZIGES KLIMAZIEL: 55 PROZENT WENIGER TREIBHAUSGASE

Für den Klimaschutz schlägt von der Leyen eine drastische Verschärfung vor. Demnach sollen die Treibhausgase der EU bis 2030 um mindestens 55 Prozent unter den Wert von 1990 fallen. Bisher lautet das offizielle Ziel minus 40 Prozent. Die Verschärfung auf «mindestens 55 Prozent» soll helfen, das Pariser Klimaschutzabkommen einzuhalten und die gefährliche Überhitzung der Erde zu stoppen. Das neue Ziel muss in den nächsten Wochen noch mit dem EU-Parlament und den EU-Staaten verhandelt werden.

Für die nötigen Investitionen will von der Leyen das Corona-Wiederaufbauprogramm in Höhe von 750 Milliarden Euro nutzen. 30 Prozent dieser Summe, die die EU über gemeinsame Schulden finanzieren will, sollen aus «grünen Anleihen» beschafft werden, kündigte die Kommissionschefin an.

EINE LEHRE AUS CORONA: MEHR MACHT FÜR DIE EU IN GESUNDHEITSFRAGEN

Die EU sollte von der Leyen zufolge mehr Macht und Geld in Gesundheitsfragen bekommen. «Für mich liegt klar auf der Hand: Wir müssen eine stärkere Europäische Gesundheitsunion schaffen, es ist Zeit.» Konkret schlug die Kommissionschefin eine neue EU-Agentur für biomedizinische Forschung und Entwicklung vor. Zudem drängte sie das Europaparlament, mehr Mittel für das Gesundheitsprogramm «EU4Health» auszuhandeln. Grundsätzlich müsse man über die Zuständigkeiten in Sachen Gesundheit sprechen. Das sei eine lohnende und dringende Aufgabe für die geplante Konferenz über die Zukunft Europas.

NORD STREAM 2 WIRD DAS VERHÄLTNIS ZU RUSSLAND NICHT ÄNDERN

Befürwortet von der Leyen nach der Vergiftung des russischen Kreml-Kritikers Alexej Nawalny einen Baustopp für die Ostsee-Erdgasleitung Nord Stream 2? Ihre Äußerungen in der Rede zur Lage der Europäischen Union sind dazu nicht eindeutig. «Denjenigen, die engere Beziehungen zu Russland fordern, sage ich: Die Vergiftung von Alexej Nawalny mit einem hoch entwickelten chemischen Kampfstoff ist kein Einzelfall», erklärte sie. Das gleiche Muster habe man zuvor in Georgien und der Ukraine, in Syrien und Salisbury gesehen - und bei der Einmischung in Wahlen weltweit. «Dieses Muster ändert sich nicht - und keine Pipeline wird daran etwas ändern», sagte von der Leyen.

ES BRAUCHT KOMPROMISSE FÜR DIE MIGRATIONSREFORM

Seit Jahren streiten die EU-Staaten erbittert über die gemeinsame Migrationspolitik - kommenden Mittwoch legt von der Leyens Behörde deshalb neue Reformvorschläge vor, die die Blockade lösen sollen. «Wenn wir alle zu Kompromissen bereit sind - ohne unsere Prinzipien aufzugeben - können wir eine Lösung finden», sagte von der Leyen. Die Bilder des abgebrannten Flüchtlingslagers Moria in Griechenland hätten schmerzhaft vor Augen geführt, «dass Europa hier gemeinsam handeln muss». Mit dem neuen Migrationspakt sollten Asyl- und Rückführungsverfahren enger verknüpft werden, Schleuser stärker bekämpft und der Außengrenzschutz forciert werden. Außerdem solle es engere Partnerschaften mit Drittländern geben.

KOMMT DER «NO DEAL» MIT GROSSBRITANNIEN?

Von der Leyen hält ein Handelsabkommens mit Großbritannien zum Ende der Brexit-Übergangsphase für immer weniger wahrscheinlich. «Mit jedem Tag schwinden die Chancen, dass wir doch noch rechtzeitig ein Abkommen erzielen.» Die Gespräche seien nicht so weit wie erhofft, und es bleibe nur noch sehr wenig Zeit. Auch mit Blick auf das Verhältnis zu den USA sagte von der Leyen: «Wir wollen einen neuen Anfang zwischen alten Freunden - auf beiden Seiten des Atlantiks wie auch auf beiden Seiten des Ärmelkanals.»

MILLIARDEN FÜR EINE EINE DIGITALE DEKADE

«Stellen wir uns für einen Moment diese Pandemie vor ohne das Digitale. Quarantäne - vollständig isoliert von Familie und Gemeinschaft, abgeschnitten von der Arbeitswelt, gewaltige Versorgungsprobleme» - mit diesen Worten leitete von der Leyen ihre Ankündigungen zu Technologie-Themen ein. Um Europa im Bereich Digitales voranzubringen, will von der Leyen eine europäische Cloud zur Datenspeicherung aufbauen, eine sichere europäische digitale Identität vorschlagen und acht Milliarden Euro in die nächste Generation von Supercomputern investieren.


EU-Abgeordnete reagieren gemischt auf Rede von der Leyens

BRÜSSEL: Die Abgeordneten des Europaparlaments haben die erste Rede zur Lage der Europäischen Union von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen unterschiedlich bewertet. Von der Leyen habe ein «leidenschaftliches Plädoyer auf die europäischen Werte» gehalten, teilten die Vorsitzenden der deutschen Christdemokraten im Europaparlament, Daniel Caspary (CDU) und Angelika Niebler (CSU), am Mittwoch nach der Rede mit. Die neu angekündigten Initiativen seien verheißungsvoll, müssten aber konstruktiv und kritisch hinterfragend begleitet werden.

Die SPD-Politikerin Delara Burkhardt nannte das vorgeschlagene neue EU-Klimaziel enttäuschend. «Im Umweltausschuss des Europäischen Parlaments haben wir erst letzte Woche ein Ziel von 60 Prozent gefordert - ohne Einbeziehung des Landnutzungs- und Forstwirtschaftssektors», sagte die umweltpolitische Sprecherin der Europa-SPD. Von der Leyen hatte in ihrer Rede vorgeschlagen, die Treibhausgase der EU bis 2030 um mindestens 55 Prozent unter den Wert von 1990 zu bringen.

Der belgische Liberale Guy Verhofstadt forderte von der Leyen im Plenum auf, die Rede zu wiederholen - allerdings im EU-Rat. Die Rede habe ihm gut gefallen, sagte Verhofstadt. Im Rat der EU-Staats- und Regierungschefs würden derzeit die Hälfte der von von der Leyen angesprochenen Probleme aber blockiert.

EU-Politiker der rechtsnationalen ID-Fraktion warfen von der Leyen vor, sich innerhalb der Migrationspolitik nicht ausreichend um die Sicherung der EU-Außengrenze zu kümmern. Die EU ließe sich zudem von der Türkei mit der Migrationsfrage erpressen, sagte ID-Fraktionsvorsitzender Nicolas Bay.

Die EU-Kommissionschefin hatte am Mittwoch zum ersten Mal die Rede zur Lage der Staatengemeinschaft in Brüssel gehalten. Darin ging sie unter anderem auf die Folge der Corona-Pandemie, das EU-Klimaziel und die EU-Migrationspolitik ein.

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