«Von den Fluten des Nils mitgerissen»

​Jahrhundertflut im Sudan

Foto: epa/Mohammed Abu Obaid
Foto: epa/Mohammed Abu Obaid

KHARTUM: Jedes Jahr erlebt der Sudan Überschwemmungen - doch dieses Jahr ist das Ausmaß schier apokalyptisch. Hunderttausende Menschen haben ihr Hab und Gut verloren, auch Kulturstätten sind bedroht. Kann der umstrittene Staudamm in Äthiopien künftig das Problem lindern?

An dem Tag, an dem Sumaia Hammad Sulaiman ihr drittes Kind zur Welt brachte, kamen die Fluten. Sie ging abends erschöpft und mit Schmerzen schlafen. Wenige Stunden später wurde sie von ihrem Mann geweckt. «Als ich aus dem Bett stieg, war mein halber Körper im Wasser», sagt die 28-Jährige. In Windeseile verließ die Familie ihr Zuhause in Khartum und ließ ihr gesamtes Hab und Gut zurück - eine halbe Stunde später stürzte ihr Haus ein. «Alles, was wir besaßen, wurde von den Fluten des Nils mitgerissen.»

Sulaiman ist - zusammen mit 650.000 anderen Menschen - einer Jahrhundertflut im Sudan zum Opfer gefallen. Jedes Jahr schwillt der Nil in dem Land im Nordosten Afrikas an und überflutet die umliegenden Gebiete. Doch dieses Jahr ist anders. Sintflutartiger Regen hat überall in dem Wüstenstaat Straßen in Flüsse und Ackerland in Seen verwandelt, Sturzfluten haben ganze Dörfer vernichtet. Laut den Behörden wurde der höchste Stand des Nils seit Beginn der Aufzeichnungen gemessen. Die Regierung hat sogar den Notstand im Land ausgerufen. Mehr als 111.000 Häuser wurden demnach beschädigt oder zerstört, die Menschen müssen nun mit dem Allernötigsten versorgt werden - in einem Land, das ohnehin schon unter einer desaströsen Wirtschaft und verheerenden Corona-Pandemie ächzt.

«Alles, was die Grundbedürfnisse befriedigen könnte, ist nicht mehr vorhanden», sagt Nora Nebelung, die Projektleiterin der Deutschen Welthungerhilfe im Sudan. Die Betroffenen haben demnach kein Dach über dem Kopf, kein sauberes Trinkwasser, Nahrungsmittel oder Sanitäranlagen. Die Organisation versorgt landesweit nach eigenen Angaben rund 68.000 Menschen mit Material für Notbehausungen, Moskitonetze, Decken, Matten und Wasserkanistern.

Besonders schlimm ist die Hauptstadt Khartum betroffen, in der sich der Blaue Nil und der Weiße Nil treffen. Bewohner waten durch kniehohes Wasser oder nutzen Boote, um Straßen zu passieren. Einige konnten noch rechtzeitig Sandsäcke aufstapeln, um ihre Häuser zu schützen. Doch für viele war es schon zu spät. Sulaimans Familie und Tausende andere haben sich in provisorische Lager gerettet, wo sie in einfachen Zelten aus Stoff wohnen.

Außerhalb des Stadtzentrums mussten Bauern mitansehen, wie ihre Felder von den Fluten verschluckt wurden. «Unsere ganze Arbeit wurde zunichte gemacht», sagt Abdel Dschabbar Ahmed. Der 55-Jährige lebt in seinem Geburtsort nördlich von Khartum. Er baut Zwiebeln und Knoblauch an, eine Ernte bringt ihm rund 5000 Dollar ein, wie er erklärt. Ob er in einigen Monaten überhaupt etwas zu ernten hat, ist ungewiss. «Ich habe schon als Kind meinem Vater geholfen, dieses Land zu beackern, und ich habe noch nie solche Überschwemmungen gesehen.»

Die Probleme, die die fragile Übergangsregierung im Land nun bewältigen muss, sind exorbitant. Nebelung macht sich große Sorgen, «dass sich der Hunger weiter ausbreitet». Zwischen Juni und September sind demnach bereits 9,6 Millionen Menschen - rund ein Fünftel der Bevölkerung - akut vom Hunger betroffen. Das liegt vor allem an der schlechten Wirtschaftslage, die sich seit dem Putsch vor anderthalb Jahren kaum gebessert hat, sowie Dürren, Konflikte und dem Corona-bedingten Lockdown. Sollten die Überschwemmungen nun auch noch die landwirtschaftliche Produktion stark beeinträchtigen, könnte sich dies verschärfen.

Weitere Gefahren drohen. «Es wird erwartet, dass sich Krankheiten ausbreiten», sagte Babiker Mohammed Ali vom Gesundheitsministerium jüngst. Vielerorts kann das Wasser nicht abfließen, was Moskitos, die etwa Malaria oder Denguefieber übertragen, eine ideale Brutstätte bietet. Außerdem droht bei mangelndem Zugang zu sauberem Trinkwasser ein Ausbruch von Cholera und anderen Durchfallerkrankungen.

Doch nicht nur Menschen leiden unter den Fluten, auch Sudans Kulturerbe. Nördlich von Khartum stehen Dutzende Pyramiden, die von den Herrschern des antiken Reichs von Kusch erbaut wurden. Noch seien die einige Kilometer vom Nil entfernten weltberühmten Pyramiden von Meroe nicht betroffen, sagt der Direktor für Altertumsverwaltung im Bundesstaat River Nile, Abdel Baki. Doch die Fluten hätten bereits die königliche Stadt von Meroe erreicht. Und die weiter nördlich gelegenen Pyramiden von Nuri litten bereits unter dem steigenden Grundwasserstand. Die Unesco warnte, dass die beiden Weltkulturerbestätten bedroht werden könnten, sollte es weiter stark regnen.

Etwas Licht am Ende des Tunnels gibt es dank Afrikas künftig größtem Staudamm, den Äthiopien flussaufwärts auf dem Blauen Nil baut. Das Projekt sorgt für viel Ärger mit Ägypten, doch für den Sudan könnte es von Vorteil sein. «Wenn der GERD voll in Betrieb ist, hat er das Potenzial, Überschwemmungen im Sudan zu reduzieren, weil er den Fluss des Blauen Nils in den Sudan regulieren kann», erklärt William Davison von der International Crisis Group. Allerdings ist der Staudamm noch nicht fertig - und die Sudanesen müssen sich noch auf etliche Wochen Regen gefasst machen.

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