Vom Wahlsieger zum Mühlstein am Hals: Johnson im Überlebenskampf

Der britische Premierminister Boris Johnson verlässt die Downing Street 10 in London. Foto: epa/Andy Rain
Der britische Premierminister Boris Johnson verlässt die Downing Street 10 in London. Foto: epa/Andy Rain

LONDON: Der britische Premierminister ist nach dem überstandenen Misstrauensvotum schwer angezählt. Es gilt als kaum vorstellbar, dass er sich davon noch einmal erholt. Auf der anderen Seite gilt er als «Teflon-Politiker», für den konventionelle Regeln nicht gelten.

Margaret Thatcher, John Major, Theresa May: Eine zunächst überstandene Misstrauensabstimmung hat in der Vergangenheit oft den Anfang vom Ende der Karriere britischer Regierungschefs eingeläutet. Vieles spricht dafür, dass es auch bei Boris Johnson so sein wird. Der konservative Premierminister konnte zwar bei der Misstrauensabstimmung am Montagabend mit 211 Stimmen eine Mehrheit der Tory-Abgeordneten hinter sich scharen, doch gleichzeitig entzogen ihm 148 Abgeordnete das Vertrauen. Johnson gab sich nach der Abstimmung kämpferisch, aber er gilt als schwer angeschlagen.

«Ich glaube, das ist ein extrem gutes, positives, abschließendes und deutliches Ergebnis», sagte der konservative Parteichef nach der Abstimmung in einem Fernsehinterview. Er fügte hinzu: «Was das bedeutet ist, dass wir als Regierung nun voranschreiten können und uns auf Dinge konzentrieren können, die den Menschen meiner Meinung nach wirklich wichtig sind.»

Doch daran glaubt kaum jemand. Johnson, der noch vor zweieinhalb Jahren als strahlender Wahlsieger eine Mehrheit einfuhr wie zuletzt die «Eiserne Lady» Margaret Thatcher steht stattdessen nach Ansicht vieler Kommentatoren schon jetzt vor dem Scherbenhaufen seiner politischen Karriere. Mehr als 40 Prozent seiner Fraktion hat ihm das Vertrauen entzogen. Das Regieren dürfte ihm damit schwerfallen.

Großbritanniens Ex-Außenminister und früherer Tory-Chef William Hague verglich den Premier mit einem Autofahrer, der mit zwei platten Reifen auf der Autobahn unterwegs ist. «Man kann sagen, dass man am Steuer sitzt, aber man wird nicht am Ziel ankommen», sagte Hague dem Sender Times Radio am Dienstag. Er legte dem Premier daher nahe, die Reißleine zu ziehen und selbst abzutreten.

Doch damit ist wohl kaum zu rechnen. Noch kurz vor der Abstimmung am Montagabend hatte Johnson seine Fraktionskollegen an seine Bilanz erinnert, von den politisch Totgesagten wiederaufzustehen.

Tatsächlich hat sich Johnson in der Vergangenheit immer wieder über scheinbare Naturgesetze der britischen Politik hinweggesetzt. Skandal über Skandal schienen an ihm abzutropfen wie an Wasser an einer Teflon-Pfanne. Dazu gehörten Ungereimtheiten bei der Finanzierung eines Luxusurlaubs in der Karibik und bei der aufwendigen Renovierung seiner Dienstwohnung sowie immer wieder Un- und Halbwahrheiten, die der Premier auftischte.

Eine katastrophale Bilanz beim Umgang mit der Corona-Pandemie durch verspätete Lockdowns konnte Johnson in einen Erfolg ummünzen, als er die erfolgreiche Impfkampagne seines Landes als Errungenschaft des Brexits vermarktete, der das Land flexibler gemacht habe. In Wirklichkeit wurde massenhaft Impfstoff aus der EU importiert, während London dafür sorgte, dass in die andere Richtung so gut wie nichts ging.

Das Glück schien Johnson aber zu verlassen, als im vergangenen Winter nach und nach Einzelheiten über teils exzessive Lockdown-Partys im Regierungssitz Downing Street ans Licht kamen. Johnson, der seine Landsleute in der Pandemie immer wieder mit ernster Miene dazu aufgerufen hatte, zuhause zu bleiben, und selbst sterbende Angehörige nicht zu besuchen, hatte mit Kollegen gefeiert und getrunken, wie sich herausstellte. Der Premier hatte jedoch die Chuzpe, sich vors Parlament zu stellen und abzustreiten, was für jeden offensichtlich war. Erst als es nicht mehr anders ging und er von der Polizei einen Strafbefehl erhielt, entschuldigte er sich. Die Unwahrheit will er trotzdem nicht gesagt haben. Er habe schließlich nicht gewusst, dass es sich um Feiern gehandelt habe.

Zwar verschaffte der Krieg in der Ukraine dem Premier eine kurze Verschnaufpause, doch die Quittung kam bei der Kommunalwahl Anfang Mai. Johnsons Konservative mussten massive Rückschläge einstecken und verloren Hunderte von Sitzen in Lokalparlamenten im Land. Aus dem strahlenden Wahlsieger von 2019 war ein Mühlstein am Hals seiner Partei geworden. Das Fass zum Überlaufen brachten nun wohl der abschließende Bericht zum Partygate-Skandal sowie womöglich die Buhrufe bei Johnsons Eintreffen an der St.-Pauls-Kathedrale zum Dankgottesdienst während der Feierlichkeiten zum 70. Thronjubiläum der Queen.

Zwar ist die Tory-Rebellion vorerst gescheitert und eine weitere Misstrauensabstimmung ist den Regeln der Partei zufolge für die kommenden zwölf Monate ausgeschlossen. Doch die nächste Krise lauert schon, denn bereits am 23. Juni stehen Nachwahlen in zwei englischen Wahlkreisen an, bei denen Johnsons Tories abgestraft werden dürften. Zudem ermittelt ein parlamentarischer Ausschuss in der Frage, ob Johnson das Unterhaus in der Partygate-Affäre wissentlich in die Irre geführt hat. Der Druck auf Johnson dürfte damit weiter steigen.

Ob sich Johnson tatsächlich noch einmal aufrappeln kann, ist ungewiss. Kaum einen Zweifel dürfte es aber geben, dass er keinerlei Skrupel zeigen wird, wenn es darum geht, seine Haut zu retten. Die «Times» zitierte kürzlich einen ehemaligen Weggefährten Johnsons mit der Charakterisierung, der Politiker ähnle einer Ratte: «Er wurstelt sich solange ganz liebenswert durch, bis er in der Falle sitzt. Dann würde er selbst Knochen durchnagen und jeden um die Ecke bringen und alles tun, um freizukommen.»

Überzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.
Pflichtfelder

Es sind keine Kommentare zum Artikel vorhanden, bitte schreiben Sie doch den ersten Kommentar.