Die Schweden und ihr Corona-Weg

​Verrückt oder genial?

Der schwedische Premierminister Stefan Lofven (L) spricht neben Aussenministerin Ann Linde (R) über die aktuelle Situation der andauernden Pandemie SARS-CoV-2-Coronavirus verursachten COVID-19-Krankheit im skandinavisc... Foto: epa/Pontus Lundahl
Der schwedische Premierminister Stefan Lofven (L) spricht neben Aussenministerin Ann Linde (R) über die aktuelle Situation der andauernden Pandemie SARS-CoV-2-Coronavirus verursachten COVID-19-Krankheit im skandinavisc... Foto: epa/Pontus Lundahl

STOCKHOLM: Die einen machten alles dicht, die anderen ließen fast alles offen: Dänemark und Schweden sind in der Corona-Krise völlig unterschiedlich vorgegangen. Während die Dänen Fortschritte machen, bleiben die Zahlen bei den Schweden hoch. An ihrem Kurs halten sie dennoch fest.

Schweden und Dänemark geben beide um Punkt 14.00 Uhr ihre täglichen Corona-Zahlen bekannt. Damit hören die Gemeinsamkeiten der skandinavischen Nachbarn in der Corona-Krise aber auch schon auf: Während die Dänen das neuartige Coronavirus mit strikten Maßnahmen in den Griff bekommen haben wie kaum ein zweites Land in Europa, stehen die Schweden mit ihrer freizügigeren Strategie bislang weitaus schlechter da. Und auf der dänischen Seite der Öresundbrücke fragt man sich bereits: Sind die Schweden verrückt geworden - oder stellt sich ihr Sonderweg am Ende als genial heraus?

Ein Blick auf die Zahlen der vergangenen Tage macht die Unterschiede zwischen den beiden ansonsten eng verbundenen Ländern deutlich: Am Donnerstag vermeldeten die Schweden 69 neue Covid-19-Tote und 673 Neuinfektionen, während es bei den Dänen nur vier weitere Todesfälle und 46 bestätigte neue Erkrankungen waren. Am Freitag kamen in Schweden gar 117 neue Tote hinzu, in Dänemark dagegen erstmals seit knapp zwei Monaten kein einziger. Insgesamt steht Schweden nun bei mehr als 29 000 Infektions- und 3646 Todesfällen - verglichen mit etwa 10 800 Erkrankungen und 537 Toten in Dänemark, wo etwa halb so viele Menschen wohnen.

Auch im Vergleich zum restlichen Skandinavien sticht Schweden mit den höchsten Zahlen heraus. Trotzdem hält das Land von Ministerpräsident Stefan Löfven und Staatsepidemiologe Anders Tegnell an seiner Strategie fest. Die Lage im Land sei stabil, versicherte Tegnell zuletzt. Auch wenn er einräumte: «Es ist furchtbar traurig, dass weiter so viele Menschen in Schweden an dieser Krankheit sterben.»

Anders als Deutschland und der Rest Europas hat sich Schweden im Kampf gegen das Coronavirus dagegen entschieden, große Teile des öffentlichen Lebens zu beschränken. Schulen, Geschäfte, Restaurants - die jetzt etwa in Dänemark nach und nach wieder geöffnet wurden oder werden - blieben durchgehend offen. Trotzdem geht es auch den Schweden darum, die Corona-Ausbreitung abzubremsen, um Todesfälle zu vermeiden und das Gesundheitswesen nicht zu überlasten. «Schweden verfolgt dieselben Ziele wie alle anderen Länder - Leben zu retten und die öffentliche Gesundheit zu schützen», machte Außenministerin Ann Linde am Mittwoch nochmals auf Twitter klar.

Die ergriffenen Maßnahmen sind in Schweden jedoch deutlich gemäßigter gewesen als anderswo: Versammlungen mit mehr als 50 Teilnehmern sind verboten, nur Gymnasien und Unis geschlossen. Die Regierung und die Behörden appellieren ansonsten hauptsächlich an die Vernunft und den gesunden Menschenverstand ihrer Bürger. Sie bitten sie, Abstand zu halten und bei Symptomen zu Hause zu bleiben - besonders Letzteres wird von manchen Wissenschaftlern skeptisch gesehen.

«Die gesamte Strategie der schwedischen Gesundheitsbehörde baut auf einem lebensgefährlichen Konzept auf: Bleib' zu Hause, wenn du dich krank fühlst», kritisierte die Stockholmer Virologin Lena Einhorn bereits Mitte April im Sender SVT. Wenn man Kranke bitte, zu Hause zu bleiben, dann habe man einen großen Anteil der Infizierten nicht im Blick, was nicht zuletzt für Ältere Lebensgefahr bedeute, so Einhorn.

Mit ihrer Kritik am Sonderweg steht sie nicht allein da, wie mehrere Meinungsbeiträge schwedischer Wissenschaftler zeigen. 22 Forscher erklärten das Vorgehen der Gesundheitsbehörde in der Zeitung «Dagens Nyheter» bereits im April für gescheitert. Andere glauben dagegen weiter fest an den antiautoritären und freiheitlicheren Ansatz. Das führt so weit, dass manche Schweden T-Shirts mit Tegnell-Porträts tragen oder sich Tattoos mit seinem Konterfei stechen lassen. Sogar von «Corona-Patrioten» und «Gesundheitsnationalismus» ist in den führenden Zeitungen des Landes die Rede.

Besonders die Lage unter den älteren Schweden, auf die auch Einhorn hinwies, stellt jedoch ein erhebliches Problem dar: Fast 90 Prozent aller schwedischen Corona-Toten sind über 70 Jahre alt gewesen. Dabei hat die Regierung diese Hauptrisikogruppe eindringlich gebeten, soziale Kontakte zu meiden, auch Besuche in Altersheimen sind seit dem 1. April verboten. Trotzdem sind diese Heime von der Pandemie besonders hart getroffen worden, sei es in der Hauptstadt Stockholm oder in anderen Landesteilen: Etwa jeder zweite bisherige Covid-19-Tote im Land ist ein Heimbewohner gewesen.

Es gibt aber auch positive Entwicklungen: Die Reproduktionszahl lag in der zweiten April-Hälfte fast kontinuierlich unter 1,0. Das bedeutet, dass jeder Infizierte im Mittel weniger als eine weitere Person ansteckt. Die Zahl neuer Intensivpatienten geht mehr oder minder regelmäßig zurück. Und in Stockholm diskutiert man zudem über eine möglicherweise nahende Herdenimmunität, die als Konsequenz des Sonderwegs bald in der Stadt eintreten könnte. Dazu schrieben besagte 22 Forscher am Donnerstag jedoch in einem neuen Meinungsbeitrag, es sei «unrealistisch und gefährlich», sich auf diese Strategie zu verlassen. «Anstatt Menschen sterben zu lassen, sollten wir Menschen am Leben erhalten, bis wirksame Behandlungen und Impfstoffe eingesetzt werden können.»

Ob die eigenwillige Corona-Strategie der Schweden am Ende aufgeht, lässt sich auch mehrere Monate nach Pandemie-Beginn noch nicht abschätzen. «Wir können keine Schlüsse ziehen, bevor es vorbei ist», sagte auch Tegnell in einer am Dienstag veröffentlichten Reportage des dänischen Rundfunksenders DR. Bis dahin, so Tegnell, dürfte wohl noch mindestens ein Jahr vergehen.

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