Verirrt in Russlands Wäldern

Wenn Freiwillige Leben retten

Foto: epa/ Tatyana Zenkovich
Foto: epa/ Tatyana Zenkovich

MOSKAU (dpa) - Hunderte Menschen werden in Russland jeden Tag als vermisst gemeldet. Dann begeben sich oft Freiwillige auf die Suche. Nicht immer überbringen die Retter gute Nachrichten an die Angehörigen.

Wenn sein Handy schweigt, ist das eine gute Nachricht für Russland. Wladimir Katschur gehört zu den Freiwilligen einer Such- und Rettungsmannschaft, die gerufen wird, wenn im größten Land der Erde Menschen verschwinden. Das kommt häufig vor. Mehr als 22.800 Suchanfragen sind von Januar bis Dezember 2019 allein bei der größten privaten Organisation Russlands mit dem Namen Lisa Alert eingegangen - ein neuer Rekord. «Die meisten Fälle enden glücklich», sagt Katschur, der für Lisa Alert ehrenamtlich im Einsatz ist. Doch manchmal werde die Natur auch zu einer tödlichen Falle.

Wenn in den weiten russischen Wäldern die Pilze sprießen und Preiselbeeren saftig rot sind, haben die freiwilligen Helfer viel zu tun. «Dann werden wir öfter gerufen als sonst - mehr als 30 Mal pro Tag allein rund um Moskau», zieht der 44-Jährige Bilanz aus dem Spätsommer. Vor allem ältere Menschen fänden nicht mehr den Weg nach Hause. Sie sammeln häufiger Früchte in der Natur als Jüngere und besitzen anders als die jüngere Generation nicht immer Handys.

Doch nicht nur das: Die Retter sehen auch einen Zusammenhang mit den weniger werdenden Forstbetrieben. So würden etwa umgestürzte Bäume nicht mehr überall beiseite geräumt. So werde der Wald schnell zu einem «undurchdringlichen Dschungel». Lisa Alert hat errechnet, dass jeder Zwölfte, der sich in den Wäldern Russlands verirrt, stirbt.

Rein statistisch gesehen verschwinden in Russland jeden Tag mehr als 300 Menschen. Pro Jahr seien es mehr als 120.000, geht aus einer Übersicht des Innenministeriums hervor. Am häufigsten werden demnach Männer vermisst. Viele Vermisste kehren wieder zurück. In den zurückliegenden Jahren sind laut Statistik etwa zwei Drittel wieder aufgetaucht. Von mehr als 15 Prozent fehlte aber jede Spur.

In Deutschland galten Anfang Dezember nach Angaben des Bundeskriminalamts 9.772 Männer, Frauen und Kinder als vermisst.

Wie in Deutschland ist auch in Russland die Polizei verantwortlich dafür, zu klären, warum jemand nicht nach Hause gekommen ist. «Doch sie kann nicht allen Fällen die gleiche volle Aufmerksamkeit schenken», meint Katschur. Zum Beispiel dann nicht, wenn «jemand ermordet wird und im gleichen Moment jemand anderes bei den Polizisten anruft und sagt, dass seine Oma verschwunden ist». Das soll sich aber bald ändern.

Russische Beamte sollen künftig per Gesetz verpflichtet werden, innerhalb von 24 Stunden mit der Suche zu beginnen, wenn Angehörige jemanden vermisst melden. Das sehe ein Gesetzentwurf vor, schreibt die Regierungszeitung «Rossijskaja Gaseta». Immer wieder gibt es Beschwerden, dass die Polizei mitunter nicht sofort aktiv wird.

«Je früher uns Informationen über Vermisste vorliegen, desto größer sind die Chancen, sie auch zu finden», sagt Jelena Goruaschewa vom Suchdienst Angel dem Blatt. Landesweit gibt es den Angaben nach rund 100 Organisationen und Vereine, die in dem Land mit mehr als 144 Millionen Menschen auf Vermisstensuche gehen. Lisa Alert arbeite mit der Polizei zusammen, sagt Katschur. Meist würden sich Angehörige und Menschen, die sich verlaufen haben, direkt bei dem Suchteam melden.

Am Telefon arbeiten die Retter zuerst einen Fragenkatalog ab. Dann wird entschieden, wie geholfen wird: mit Suchtrupps oder zunächst am Telefon, etwa über Anrufe bei Krankenhäusern oder Bekannten von Vermissten, oder über Vermisstenanzeigen in sozialen Netzwerken.

Die meisten Notrufe gehen bei der vor zehn Jahren gegründeten Organisation nicht aus ländlichen Gebieten ein, sondern aus der Hauptstadt. «30 Prozent aller Suchanfragen kommen aus Moskau und Umgebung», sagt Katschur, der neben seinem Beruf Einsätze koordiniert. Die hohe Zahl hänge damit zusammen, dass allein in der Metropole offiziell mehr als zwölf Millionen Menschen leben.

Der Name der Organisation erinnert an ein tragisches Schicksal, das sich vor den Toren Moskaus abspielte. In einem Wald verschwand eine Vierjährige. Fünf Tage habe niemand nach Lisa gesucht, so Katschur. Dann seien es Hunderte gewesen. Zu spät für das Mädchen. Es starb.

«Ein Erwachsener kann mehrere Wochen im Wald überleben. Wir haben Körperfett, und es gibt Wasser», sagt der 44-Jährige. Bei Kindern, Älteren und Kranken sei das aber anders.

«Die meisten Vermissten halten sich in der Nähe von Dörfern und Straßen auf - oft ohne das zu wissen», erklärt der Retter. Viele hätten glücklicherweise ein Handy dabei. Doch anstatt zuerst bei Polizei oder Suchorganisationen anzurufen, komme es nicht selten vor, dass zuerst mit Familie und Verwandten telefoniert werde. «Das geht auf den Akku», meint Katschur. Rettungskräfte können eine SMS auf das Handy schicken und den Vermissten so orten. «Wir können dann jemanden anhand des Stands der Sonne aus dem Wald lotsen.»

Es sind vor allem die Geschichten mit glücklichem Ausgang, die den Rettern Mut machen - wie die eines Dreijährigen, der im August zwei Tage allein in der Taiga bei Omsk in Sibirien herumirrte. Seine Eltern gingen Beeren sammeln und ließen das Kind im Auto zurück. Als sie zurückkamen, war der Junge verschwunden. 600 Leute suchten nach ihm. Er überlebte wohl nur, so die Retter, weil es draußen warm war.

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