Verbote gegen Rivalen? 

​Wie die Justiz Erdogan in die Hände spielt

Der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, nimmt an einer Kundgebung seiner Anhänger in Istanbul teil. Foto: epa/Sedat Suna
Der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, nimmt an einer Kundgebung seiner Anhänger in Istanbul teil. Foto: epa/Sedat Suna

ISTANBUL: Der Istanbuler Bürgermeister Imamoglu gilt als aussichtsreicher Herausforderer Erdogans. Ein Gericht hat nun ein Politikverbot gegen ihn verhängt. Schaltet Erdogan vor der Wahl gezielt seine Gegner aus?

Der Istanbuler Bürgermeister gibt sich kämpferisch, nachdem die Justiz am Vortag ein Politikverbot gegen ihn verhängt hatte. Vor seinem Rathaus wehen am Donnerstag unzählige rot-weiße Türkei-Fahnen. Mit erhobener Faust ruft Ekrem Imamoglu den Tausenden dort Versammelten zu: «Wir haben keine Angst», man werde sich gegen «Ungerechtigkeit» vereinen und die «dunklen Tage» überwinden. Im Chor fordert die Menge den Rücktritt der Regierung von Recep Tayyip Erdogan. Sie haben sich für einen versammelt, der als ernstzunehmender Konkurrent des türkischen Präsidenten gilt. Bisher, denn Imamoglu droht das politische Aus.

Spätestens seit 2019 dürfte er Erdogan ein Dorn im Auge gewesen sein. Damals gewann er als weitgehend unbekannter Politiker gegen die regierende AKP in Istanbul, Erdogans Heimatstadt. Es war eine symbolträchtige Niederlage für den Präsidenten. Denn wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei, heißt es. Imamoglu von der Mitte-Links Partei CHP wurde seither als möglicher Präsidentschaftskandidat bei den für Juni geplanten Wahlen gehandelt.

Doch diese Aussicht scheint vorerst zerschlagen: Der 52-Jährige wurde am Mittwoch wegen Beamtenbeleidigung mit einem Politikverbot belegt und zu einer Haft von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt. Die Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch spricht von einem «politisch kalkulierten Angriff», das Auswärtige Amt von einem «herben Rückschlag für die Demokratie». Tatsächlich mutet der Grund für die Verurteilung Imamoglus harmlos an: Er soll Beamte der Wahlbehörde als «Idioten» bezeichnet haben, nachdem die die Bürgermeisterwahl 2019 wiederholen ließen - auch im zweiten Wahlgang gewann Imamoglu.

Sein Amt hat er solange inne, bis das Urteil rechtskräftig ist. Vorher muss es noch durch zwei Instanzen - Dauer ungewiss. Dass die Entscheidung auf diesem Wege noch einmal widerrufen wird, gilt als unwahrscheinlich. Die Justiz ist weitgehend unter Kontrolle der Regierung und die Gewaltenteilung ist seit der Einführung des Präsidialsystems quasi aufgehoben.

Dass Istanbul an die AKP fällt, scheint damit für viele schon ausgemacht. Sollte es so kommen, wählt das Stadtparlament einen neuen Bürgermeister - in dem hat die Partei Erdogans mit ihrem Partner, der ultranationalistischen MHP, die Mehrheit. Die Kontrolle der 16-Millionen-Metropole bedeutet auch Geld, etwa über Einnahmen aus der Vermietung kommunaler Gebäude wie Wohnheimen. Die AKP könne so auch vor den Wahlen Mittel an religiöse Gemeinschaften und Interessensgruppen fließen lassen, meint der türkische Analyst Murat Yetkin, um sich so deren Unterstützung zu sichern.

Imamoglu ist nicht der erste Erdogan-Konkurrent, gegen den laut Kritiker-Lesart ein «politisch motiviertes Verfahren» geführt wurde. Selahattin Demirtas, der charismatische Ex-Vorsitzende der pro-kurdischen HDP, sitzt seit 2016 im Gefängnis - wie Tausende seiner Parteigenossen. Gegen die HDP, nach der CHP zweitstärkste Oppositionspartei, hat die Regierung zudem ein Verbotsverfahren angestrengt. Beobachter erwarten ihre Schließung noch vor den Wahlen. Die Regierung widerspricht ihrerseits der Darstellung, dass in der Türkei politische Verfahren geführt werden: Die Justiz sei unabhängig, so Justizminister Bekir Bozdag am Mittwoch.

Wählerstimmen jedenfalls hat Erdogan bitter nötig. Im Land herrscht mehr als 80 Prozent Inflation. Umfragen zufolge kommt er nach 20 Jahren an der Macht auf keine Mehrheit mehr, mit der er eine Regierung bilden könnte. Zwar sind große Städte wie Ankara, Istanbul, Izmir und Antalya unter der Führung der CHP. Sie und fünf andere Parteien haben sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen und sich die Ablösung Erdogans auf die Fahnen geschrieben. Wirklich gefährlich konnte das dem Präsidenten bislang nicht werden.

Das könnte sich nun ändern. «Dieses Ereignis kann zu einer großen Chance für die Opposition werden, wenn sie es nutzen kann», twitterte der Chef des Umfrageinstituts Metropoll, Özer Sencar.

Bereits kurz nach dem Urteil war das Bündnis, dem immer wieder zu wenige gemeinsame Nenner attestiert werden, um Geschlossenheit bemüht. Die Vorsitzenden aller Parteien im Bündnis reisten nach Istanbul. Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu - ebenfalls als möglicher Präsidentschaftskandidat gehandelt - brach seinen Deutschlandbesuch ab. Und auch der ehemalige HDP-Chef Demirtas sprach aus dem Gefängnis heraus seine Unterstützung aus. Die HDP ist nicht Teil des Sechser-Bündnisses.

Erdogan müsste am besten wissen, dass ein Politikverbot kein wirksames Mittel zur Ausschaltung eines Gegners ist. 1999 verurteilte ein Gericht ihn wegen religiöser «Aufhetzung des Volkes» zu vier Monaten Gefängnis. Seine politische Karriere schien beendet. Doch schon 2002 kam die damals neu gegründete AKP an die Macht. Dank einer Verfassungsänderung wurde das gegen Erdogan verhängte Politikverbot aufgehoben: Im März 2003 wurde er Ministerpräsident.

Überzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.
Pflichtfelder
Ingo Kerp 16.12.22 12:50
So sieht Erdowahns Demokratieverständnis aus. Alles niedermachen, was ihm politisch im Weg steht und dabei zu dumm, um die inflation zu bekämpfen.