In den Händen der Mawozo: Christliche Missionare entführt

Eine Gruppe von Menschen protestiert in der Nähe der Kirche Saint Antoine in Port-au-Prince, einer der vor Tagen entführten Ordensleute, die jahrzehntelang gearbeitet haben. Foto: epa/Jean Marc Herve Abelard
Eine Gruppe von Menschen protestiert in der Nähe der Kirche Saint Antoine in Port-au-Prince, einer der vor Tagen entführten Ordensleute, die jahrzehntelang gearbeitet haben. Foto: epa/Jean Marc Herve Abelard

PORT-AU-PRINCE: Der bitterarme Karibikstaat leidet unter Korruption, Gewalt und Naturkatastrophen. Mitten im politischen Chaos machen sich nun kriminelle Gangs das Land zur Beute. Vor allem Entführungen sind zu einem echten Geschäftszweig der Banden geworden.

Die Missionare kommen gerade von einem Waisenhaus in einem Vorort von Port-au-Prince, als die Kidnapper zuschlagen. 17 Menschen bringen die Gangster in ihre Gewalt, darunter fünf Kinder. Die Gruppe kann zunächst nur beten. «Wir bitten dringend um Gebete für die Mitarbeiter von Christian Aid Ministries, die auf einer Reise zu einem Waisenhaus entführt wurden», heißt es in einer Erklärung der christlichen Hilfsorganisation aus den USA. «Wir vertrauen auf Gott und hoffen, dass er uns aus dieser Lage befreit.»

Nach der Entführung verfolgt die haitianische Polizei ein Auto mit mutmaßlichen Mitgliedern der Bande 400 Mawozo, die für die Tat verantwortlich sein soll, wie die Zeitung «Le Nouvelliste» unter Berufung auf Polizeikreise berichtet. Bei einer Schießerei kommt ein Beamter ums Leben. Von den verschleppten Missionaren fehlt zunächst jede Spur.

Bei den Entführungsopfern handelt es sich um 16 US-Bürger und eine Person aus Kanada. Das US-Außenministerium und die Bundespolizei FBI bemühen sich um die Freilassung der Missionare. «Das FBI ist Teil der koordinierten Bemühungen der US-Regierung, die betroffenen US-Bürger in Sicherheit zu bringen», sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, am Montag in Washington. Die US-Botschaft in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince stehe in Kontakt mit den örtlichen Behörden und den Familien der Entführten. US-Präsident Joe Biden erhalte regelmäßig Informationen über die Bemühungen des Außenministeriums und des FBI.

Die Hilfsorganisation Christian Aid Ministries aus dem US-Bundesstaat Ohio wurde 1981 von Mitgliedern der christlichen Gemeinschaften der Amischen und Mennoniten gegründet und unterstützt in Haiti eine Reihe von Schulen. Nach eigenen Angaben stellt sie Unterrichtsmaterialien und Mahlzeiten zur Verfügung und ermöglicht so über 9000 Kindern den Schulbesuch.

Haiti ist das ärmste Land der Region und leidet seit Jahren unter Korruption, Gewalt und Naturkatastrophen. Seit dem verheerenden Erdbeben 2010 mit mehr als 220.000 Todesopfern hängt Haiti am Tropf der Entwicklungshilfe. Zwar pumpt die internationale Gemeinschaft Milliarden in das Land, allerdings läuft der Großteil der Mittel an der Regierung vorbei. Es sind vor allem Nichtregierungsorganisationen und die Vereinten Nationen, die die Menschen in Haiti mit dem Nötigsten versorgen. «So wurde der Staat geschwächt, den wir eigentlich unterstützen wollten», schrieb der UN-Wiederaufbaubeauftragte Bill Clinton in einem Bericht.

Auch politisch versinkt der Karibikstaat im Chaos. Anfang Juli wurde Staatspräsident Jovenel Moïse in seiner Residenz von einem Killerkommando erschossen, die Hintergründe sind bis heute unklar. Ein beschlussfähiges Parlament gibt es seit Anfang 2020 nicht mehr. Die für Ende September geplanten Wahlen wurden abgesagt. Wann sie nun wirklich stattfinden können, steht noch in den Sternen.

Zudem verschlechtert sich seit Monaten die ohnehin prekäre Sicherheitslage in Haiti. «Die gewalttätigen und mächtigen Banden in Haiti, die oft mit politischen und wirtschaftlichen Kräften verbunden sind, scheinen an Stärke und Einfluss zu gewinnen», heißt es in einer Analyse des Forschungsinstituts International Crisis Group. Allein in der Hauptstadt Port-au-Prince gibt es laut einem Bericht des UN-Kinderhilfswerk (Unicef) 95 Banden, die rund ein Drittel des Stadtgebiets kontrollieren. «Die Zerschlagung der kriminellen Gangs ist entscheidend für die Stabilität von Haiti und die Sicherheit der Bürger», schrieb die Staatssekretärin im US-Außenministerium, Uzra Zeya, Anfang der Woche bei einem Besuch in Haiti auf Twitter.

Vor allem Lösegelderpressung nehmen immer mehr zu. Nach Angaben der UN stieg die Zahl der Entführungen 2020 gegenüber dem Vorjahr um 200 Prozent. Laut «Washington Post» ist die Anzahl der Entführungen in Haiti umgerechnet auf die Einwohnerzahl die höchste der Welt. «Entführungen, gefolgt von Folter und Vergewaltigung, nehmen ein imposantes Ausmaß an, verletzen die Würde der Bürger und stürzen sie in bittere Armut, wobei Hunderttausende US-Dollar als Lösegeld verlangt werden», heißt es in einem Bericht der Menschenrechtszentrums CARDH.

Für einen Großteil der Entführungen soll die Bande 400 Mawozo verantwortlich sein. Die Gang hatte bereits im April zehn Priester, Nonnen und Familienmitglieder eines Geistlichen verschleppt. Unter den Opfern waren auch zwei Franzosen. Später wurden die Entführten freigelassen. Darauf hofft nun auch die Hilfsorganisation Christian Aid Ministries. Die Mitteilung der Gruppe endet mit einem Psalm: «Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.»

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