Überschattet die Merkel-Dämmerung Europa?

Foto: epa/Alexander Becher
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BERLIN/BRÜSSEL (dpa) - Auf Angela Merkel ruhten in der EU stets große Hoffnungen. Doch die heimische Nachfolgedebatte droht, die Kanzlerin nun auf internationaler Bühne zu schwächen. Und das ausgerechnet, wenn es auf Deutschland besonders ankommt.

Was macht eigentlich Angela Merkel? In Berlin, ganz Deutschland und sogar darüber hinaus wird diskutiert, wer künftig die CDU führen soll und damit auch ihr potenzieller Nachfolger an der Regierungsspitze wird. Aber die Kanzlerin selbst ist weitgehend abgetaucht.

Als sich am Wochenende die Welt in München zur Sicherheitskonferenz traf, um nach Lösungen für Krisen und Konflikte zu suchen, fehlte sie. Der französische Präsident Emmanuel Macron traf sich statt mit ihr mit den Grünen-Chefs Annalena Baerbock und Robert Habeck zum Abendessen. Und auf dem Podium lief sich der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet für eine mögliche Kanzlerkandidatur warm, indem er - ohne Merkel zu nennen - die aktuelle Europapolitik als zu mutlos kritisierte: «Heute macht der französische Präsident Vorschläge, wir brauchen zu lange bis man reagiert.»

Am Donnerstag und Freitag meldet sich Merkel zurück auf der internationalen Bühne und kann beim Haushalts-Sondergipfel der Europäischen Union in Brüssel zeigen, dass sie noch Gestaltungswillen und -kraft hat. Denn auf Deutschland lasten große Erwartungen. Der größte Nettozahler soll helfen, den völlig verfahrenen Budgetstreit zu lockern - auf Deutsch: Merkel soll das Portemonnaie aufmachen, um die unversöhnlichen Lager der «knausrigen» Länder und der auf EU-Hilfen angewiesenen Staaten zum Kompromiss zu bringen. Aber wie viel Prokura hat die einst von Kommentatoren so betitelte «Königin von Europa», während zuhause um ihre Nachfolge gestritten wird?

In der zweiten Jahreshälfte dann übernimmt Deutschland den Vorsitz der EU-Länder und soll für die Staatengemeinschaft ebenfalls einige dicke Bretter bohren: Der siebenjährige Haushaltsplan wird wohl erst dann endgültig mit dem Europaparlament unter Dach und Fach gebracht. Die Beziehungen zu Großbritannien nach dem Brexit sollen bis zum Jahresende geklärt sein, das Verhältnis zu China und zu Afrika neu justiert. Dann wären da noch die EU-Großbaustellen Migration und Klimaschutz. Eine Führungskrise während der Ratspräsidentschaft kann sich Berlin nicht leisten - auch wenn zuletzt Finnland während seines EU-Vorsitzes mal eben den Regierungschef auswechselte.

Aber der jetzt in der CDU besprochene Zeitplan, vor der Sommerpause den Vorsitz und womöglich auch die Kanzlerkandidatur zu klären, hat ebenfalls Tücken. Ist es denkbar, dass ein neuer CDU-Chef Friedrich Merz oder Norbert Röttgen der Kanzlerin die europäische Bühne überlässt? Dass ein Kanzleraspirant Jens Spahn sich brav weiter um den Pflegenotstand kümmert, ohne sein außenpolitisches Profil gegen die Regierungschefin zu schärfen? Laschet hat in München gezeigt, wie man die europapolitische Autorität der Kanzlerin untergraben kann.

«Angela Merkel sollte bald abtreten», fordert folglich der britische «Economist». «Der größte Gefallen, den Frau Merkel ihrem Land tun könnte, wäre Tempo zu machen, indem sie ihren sofortigen Rückzug ankündigt. Deutschland kann nicht so weiter machen.» Auch die «New York Times» sorgt sich um das führungslose Europa. Aber könnte ein Nachfolger in der Europapolitik auf den fahrenden Zug aufspringen und die Stiche machen, die nun von Merkel erwartet werden?

Das Bild der Kanzlerin ist ja durchaus zwiespältig. Einerseits wird ihr europapolitische Ideenlosigkeit vorgehalten - erst jetzt wieder bei der Münchner Sicherheitskonferenz. «Ich bin ungeduldig», sagte dort Präsident Macron, der europapolitische Heißssporn, den Merkel bisher weitgehend auflaufen ließ. Merkels Nachfolger könnte frischen Schwung und Aufbruch bringen.

Andererseits schlingert die EU ohnehin rund um Merkels Deutschland als ruhenden Pol. Von den sechs EU-Gründerstaaten wirkt allenfalls das winzige Luxemburg noch wie ein Hort der Stabilität. Belgien hat seit mehr als einem Jahr keine reguläre Regierung, weil Regionalparteien der Rechten und Linken nicht zueinander finden. Die Niederlande quälen sich mit einer Vielfalt von Kleinstparteien und wechselnden rechtspopulistischen Treibern. Macron selbst ist in Frankreich unter Druck durch ständige Protestwellen und den EU-kritischen Rassemblement National. In Italien lauert der Rechtspopulist Matteo Salvini auf einen Sieg bei möglichen Neuwahlen.

In all diesen Ländern sind traditionelle Volksparteien längst aufgerieben, während in Deutschland die Kanzlerin mehr als 14 Jahre tatsächlich fast wie eine Königin thronte. Die Erosion der einst stattlichen Wähleranteile von CDU/CSU und SPD und das neue, qualvolle Ringen um Mehrheiten, vollzieht also nur das nach, was fast überall in Europa schon Wirklichkeit ist. Und doch ist es für die EU beunruhigend, sollte sich nun auch das größte und wirtschaftsstärkste Mitgliedsland monatelang politisch neu sortieren.

Jana Puglierin vom European Council on Foreign Affairs wagt die Prognose, dass die große Koalition in Berlin weiter macht als eine Art «Platzhalterregierung», aber richtig ermutigend klingt das auch bei ihr nicht. Der CDU-interne Richtungsstreit werde viel Kraft abziehen, prophezeit sie: «Andere Mitgliedsstaaten sollten ihre hohen Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft herunterschrauben.»

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