ST. GALLEN: Dass Kritiker der politischen Führung in Belarus verfolgt und verurteilt werden oder verschwinden, ist laut Oppositionellen an der Tagesordnung. In der Schweiz steht jetzt ein Mann vor Gericht, der sagt, er sei bei Ermordungen dabei gewesen.
Gefesselt, geknebelt, mit einem Sack über dem Kopf oder einer Eisenkette gewürgt und schließlich erschossen: so sollen drei Oppositionelle in Belarus 1999 ermordet worden sein. Das sagt zumindest einer, der nach eigenen Angaben dabei war: Juri Garawski, Mitte 40, zwei Meter groß, kurze Haare, breites Gesicht. Ist er ein Killer mit Staatsauftrag oder ein Aufschneider? Darüber befindet ab Dienstag ein Schweizer Gericht. Das Menschenrechtszentrum Viasna aus Belarus (Weißrussland), dessen Gründer Ales Bjaljazki 2022 den Friedensnobelpreis bekam, spricht von einem «bahnbrechenden Prozess». Es hofft auf einen Wendepunkt bei der Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen in Belarus.
Viasna hat den Fall zusammen mit der Genfer Organisation Trial International vor Gericht gebracht. «Es ist das erste Mal, dass solche Verbrechen in Belarus im Zentrum eines Prozesses stehen», sagt Trial-Jurist Benoit Meystre der Deutschen Presse-Agentur. Die Organisation kämpft dafür, dass Verantwortliche für solche Taten nirgends auf der Welt sicher sind.
Ein Schuldspruch wäre das erste Urteil, mit dem gerichtlich festgehalten wird, dass die autoritäre Regierung von Alexander Lukaschenko, die Oppositionelle ins Gefängnis wirft, für ihren Machterhalt auch morden ließ. Denn Garawski kann nach den Statuten nur verurteilt werden, wenn er im Auftrag einer Regierungsstelle handelte. «Der Prozess ist ein starkes Signal für die Menschen in Belarus und anderen Ländern, dass solche Gräueltaten nicht ungesühnt bleiben», sagt Meystre.
Der Angeklagte war 2018 in die Schweiz geflüchtet. Er machte in seinem Asylantrag geltend, er könne nicht zurück, weil er als Mitglied einer Spezialeinheit an der Ermordung von drei Oppositionellen beteiligt gewesen sei, wie das Gericht mitteilte. Ein paar Monate später packte er bei der «Deutschen Welle» (DW) über seine Rolle in einer belarussischen Todesschwadron aus. Für jeden Job habe er 500 Dollar bekommen.
Es geht um diese drei Opfer: den ehemaligen Innenminister Juri Sacharenko, Viktor Gontschar, Ex-Leiter der Wahlkommission, und den Geschäftsmann Anatoli Krassowski. Der Angeklagte schilderte in Interviews der DW und der «NZZ» brutale Details der Entführungen und Ermordungen. Eine Leiche sei in ein Krematorium geschafft, die beiden anderen verscharrt worden.
Seine Flucht erklärte er mit Gewissensbissen und einem Anschlag auf sein Leben. Warum er überhaupt dabei war? «Wenn du 20 Jahre alt bist und das Vaterland ruft, dann gehst du. Hätte ich mich geweigert, wäre auch ich in dieser Grube gelandet», sagte Garawski der «NZZ».
Im Gerichtssaal werden als Nebenklägerinnen die Töchter von zwei Verschwundenen sein, wie ihr Anwalt Severin Walz der dpa sagt: Jelena (Alena) Sacharenko, die in Münster lebt, und Waleria Krasowskaja. Sie hätten 20 Jahre vergeblich nach Nachrichten über ihre Väter gesucht. «Ich werde ihr Leid in meinem Plädoyer schildern», sagte Walz.
In Belarus herrscht der Agrarökonom Lukaschenko seit 1994, nach Angaben von Oppositionellen mit zunehmend brutalen Methoden. Nach den Präsidentschaftswahlen 2020 ließ er sich zum sechsten Mal in Folge zum Sieger erklären. Es kam zu Massenprotesten, die Lukaschenko mit Rückendeckung des engen Verbündeten Russland niederschlagen ließ. Die EU erkennt den inzwischen 69-Jährigen nicht mehr als Präsidenten an.
Über Todesschwadronen in Belarus hat schon 2004 Christos Pourgourides als Sonderermittler an den Europarat berichtet. Er nannte damals etwa 30 verschwundene Regimekritiker und sprach von «schwerwiegenden Verdachtsmomenten gegen hohe Regierungsbeamte und sogar gegen Präsident Lukaschenko». Konkrete Beweise gab es aber nicht. Nun tritt Garawski beim Gericht in St. Gallen als eine Art Kronzeuge auf.
Die von ihm genannten Fälle liegen zwar lange zurück. In Belarus verschwinden laut Beobachtern aber bis heute Oppositionelle. Wie die Flötistin Maria Kolesnikowa, eine der Symbolfiguren der Proteste gegen die mutmaßlich manipulierte Wahl 2020. Sie wurde 2021 wegen «Gefährdung der staatlichen Sicherheit» zu elf Jahren Straflager verurteilt. Die Familie hat seit Monaten nichts von ihr gehört. «Natürlich habe ich Angst, dass sie tot sein könnte», sagte ihre Schwester Tatsiana Khomich dem Nachrichtenportal «ZDFheute.de» im August.
Eine UN-Arbeitsgruppe hat seit 1980 weltweit gut 59.000 Fälle von Verschwundenen in 110 Staaten dokumentiert. 46.000 Fälle waren 2021 noch ungeklärt, darunter die der drei Belarussen.
Garawski steht vor Gericht, weil die Schweiz 2015 dem internationalen Übereinkommen über den Schutz vor Verschwindenlassen beigetreten ist. Sein Ziel ist es, dass Täter überall auf der Welt unabhängig vom Tatort zur Rechenschaft gezogen werden können. Garawski drohen laut Behörden drei Jahre Haft, von denen aber nur ein Jahr vollzogen werden soll.