Tod Nawalnys: Julia symbolisiert Mut

Foto: Pixabay
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MOSKAU/MÜNCHEN: Nach dem Tod von Kremlgegner Alexej Nawalny blicken viele verzweifelte Russen nun hoffnungsvoll auf Ehefrau Julia Nawalnaja. Wird sie in die politischen Fußstapfen ihres Mannes treten?

Julia Nawalnaja ringt sichtlich um Fassung, als sie die Bühne der Münchner Sicherheitskonferenz betritt. Sicherlich hätten alle schon die schrecklichen Neuigkeiten über ihren Mann, den inhaftierten Kremlgegner Alexej Nawalny, gehört, sagt sie. Zu diesem Zeitpunkt am Freitagnachmittag hat Nawalnaja noch keine endgültige Gewissheit, dass Alexej wirklich tot ist. «Aber wenn es tatsächlich stimmt, dann möchte ich, dass (Wladimir) Putin und seine Umgebung, Putins Freunde, seine Regierung wissen, dass sie sich verantworten müssen. Für das, was sie unserem Land angetan haben, meiner Familie und meinem Mann», sagt die 47-Jährige. Die Menschen im Saal applaudieren ihr stehend. Später geht das Video der rund zwei Minuten langen Rede im Internet viral. Nawalnaja wird zum Symbol für Stärke und fast unvorstellbare Selbstbeherrschung - und zur Hoffnungsträgerin.

Die erste Nachricht vom Tod Nawalnys am Freitag und die Bestätigung durch sein Team am Samstag haben kritisch eingestellte Russen in großen Schock versetzt. Dass Nawalnys Mutter Ljudmila und sein Anwalt nun extra viele Stunden lang zum Straflager im äußersten Norden Russlands gefahren sind und die Leiche trotzdem nicht finden können, macht viele nur noch fassungsloser. «Die Sonne ist untergegangen», schreibt der russische Soziologe Grigori Judin in einem Gastbeitrag für das kremlkritische Portal «Meduza».

In sozialen Netzwerken finden viele ähnlich verzweifelte Worte. Zuweilen wirkt es, als sei gerade nicht nur Nawalny gestorben, sondern auch die Zuversicht vieler oppositioneller Russen darauf, dass sich in absehbarer Zeit in ihrem Land irgendetwas zum Besseren ändert. Zwar war Nawalny bei aller Popularität durchaus auch ein streitbarer Politiker. Doch in Putins immer repressiver agierendem Russland war er zuletzt für sie ein großer Mutmacher - selbst, wenn sie nicht alle seine politischen Ansichten teilten. Trotz Hunderter Festnahmen trauen sich am Wochenende in zahlreichen russischen Städten Menschen auf die Straßen, um Blumen für Nawalny abzulegen.

In all der Trauer richten sich viele Blicke nun auf Nawalnaja, die auf so tragische Weise Witwe geworden ist. Die studierte Ökonomin und ihr Mann lernen sich vor rund 25 Jahren bei einem Urlaub in der Türkei kennen. Julia bezeichnet Alexej später als ihre «echte große Liebe» und «besten Freund» zugleich. Wenige Tage vor seinem Tod lässt er am Valentinstag über sein Team auf Instagram ein gemeinsames Foto veröffentlichen. Beiden trennten mittlerweile Tausende Kilometer, schreibt er, doch: «Ich spüre, dass du jede Sekunde bei mir bist und ich liebe dich immer mehr.» Nawalny hinterlässt auch zwei Kinder: Die 23 Jahre alte Darja, die in den USA studiert, und Sohn Sachar, 15 Jahre alt.

Bis zu Alexejs Inhaftierung treten die Nawalnys oft als Team auf. Julia und die Kinder sind an der Seite des Politikers, als er im Jahr 2020 nur knapp einen Giftanschlag überlebt, für den er Putin persönlich beschuldigt und von dem er sich nach wochenlangem Koma in Deutschland erholt. Anfang 2021 fliegt Julia Nawalnaja mit ihrem Mann gemeinsam zurück nach Moskau, wo er noch am Flughafen festgenommen wird.

Später geht sie mit Tausenden anderen Russen auf die Straße, um - vergeblich - für seine Freilassung aus dem Straflager zu demonstrieren. Tochter Darja tritt ebenfalls immer wieder öffentlich auf, nimmt stellvertretend für ihren Vater internationale Auszeichnungen entgegen und schreibt 2022 einen Gastbeitrag für das renommierte «Time Magazine». Zusammen nehmen beide Frauen zudem im vergangenen Jahr in Los Angeles den Oscar entgegen, mit dem der Dokumentarfilm «Nawalny» ausgezeichnet wurde.

Manche setzen nun auf Julia und Darja als neue Leitsterne der russischen Opposition.«Es gibt nichts Stärkeres in der Welt als Mutter und Tochter, die wegen des Todes von Mann und Vater gegen das System kämpfen», schreibt zum Beispiel die bekannte Frauenrechtlerin Aljona Popowa auf Instagram.

Die Politologin Tatjana Stanowaja prognostiziert, der russische Machtapparat werde den Tod Nawalnys weiter so gut es gehe «ignorieren und vertuschen» und jegliche Sympathiebekundungen für den Oppositionellen unterdrücken. Die Lage sei für den Kreml nämlich durchaus riskant, führt sie aus: «Die Behörden müssen Anstrengungen unternehmen, damit sich der heutige Schock (...) nicht zu einer politischen Bewegung entwickelt», schreibt sie. «Bisher haben Putin- und Kriegsgegner pragmatisch still gesessen und die Sinnlosigkeit von Protesten verstanden. Jetzt könnten Emotionen eine Rolle spielen.» Mit Blick auf Nawalnaja ist sich Stanowaja sicher: «Julia Nawalnaja wird eine politische Figur werden, ob sie das will oder nicht. Ihren Worten kommen jetzt besondere Bedeutung und Gewicht innerhalb der oppositionellen Umgebung zu (...). Diese Ressource muss sie verwalten.»

Ob Nawalnaja in Zukunft wirklich verstärkt als Politikerin in Erscheinung treten wird, bleibt abzuwarten. Einen ersten Hinweis darauf, dass sie das selbst vorhaben könnte, gibt es allerdings bereits am Freitagabend: Wenige Stunden nach der Nachricht über den Tod ihres Mannes trifft sie sich mit der belarussischen und ins Exil geflohenen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja. Worum es dabei geht, ist nicht bekannt. Tichanowskaja veröffentlicht später auf Telegram lediglich zwei Fotos und ein Video ohne Ton. Die heute 41 Jahre alte Belarussin trat im Sommer 2020 in ihrer Heimat bei der Präsidentenwahl gegen den autoritären Langzeit-Machthaber Alexander Lukaschenko an - anstelle ihres bis heute inhaftierten Mannes Sergej. Nun gilt sie als Führerin der belarussischen Opposition.

Unter russischen Regimegegnern wird derweil in sozialen Netzwerken ein Ausschnitt aus dem «Nawalny»-Dokumentarfilm geteilt: Kurz vor seiner Rückkehr nach Russland 2021 - als er sich gerade von dem auf ihn verübten Attentat erholt - wird Nawalny darin gefragt, was er dem russischen Volk mit auf den Weg geben wolle, falls er eines Tages wirklich getötet werden sollte. Der Kremlgegner lächelt und antwortet: «Für den Fall, dass ich getötet werde, ist meine Botschaft sehr einfach: Gebt nicht auf!» Nawalnaja hat bereits mit ihrem Auftritt in München und ihrer dortigen Kampfansage an Putin eindrücklich bewiesen, dass sie nicht aufgegeben hat.

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