Augen zu und durch

„Alles fließt“, schrieb der griechische Philosoph Heraklit vor rund 2.500 Jahren und meinte damit den Fluss der Zeit, des Lebens. Ich muss hin und wieder daran denken, wenn ich mich hier in Hua Hin mit dem Velo durch den Verkehr schlängele. Es gibt kaum je Staus, es ist alles sehr unaufgeregt, niemand hupt, kein Stinkefinger, keiner scheint es eilig zu haben, ein röhrender Tatzelwurm bewegt sich gemächlich durch die Innenstadt.

Man lässt sich großzügig den Vortritt, wobei es vermutlich nur den wenigsten klar wäre, was damit gemeint sein könnte. Linksverkehr, also Linksvortritt? Nebbich. Kann man ja klären, wenn’s gekracht hat. Alles schön dereguliert hier. Mir auch egal, ich fahre mal los. Hinein in den rechtsfreien Raum.

Unterwegs fällt mir auf, dass es kaum Verkehrsschilder gibt. Auf der vielbefahrenen Strecke dem Bahnsteig entlang bis zum pittoresken Bahnhof gibt es kein einziges davon. Zum Elend der Fußgänger auch kein Trottoir. Wer hier zu Fuß unterwegs ist, hat ein Date mit dem Friedhof. Würde man einen Thai fragen, wieso es – vor dem Bahnhof – keinen Zebrastreifen gibt, würde er einen völlig verständnislos anschauen und denken: Zebras? Der Mann hat sie wohl nicht alle, wir sind doch hier nicht in Alaska…!

Eine Choreographie ohne Anweisungen

Dasselbe gilt für Stoppstraßen. Die vielen kleinen Zufahrtstrassen aus dem Bauch des historischen Zentrums, welche auf die erwähnte Hauptstrecke führen, wären in der Schweiz aufwendig weiß markiert und ausgeschildert. Hier lässt man sich, ohne aufzublicken, vom Verkehrsstrom aufnehmen. Eine Choreographie, die keine Anweisungen braucht. Die Thais haben den Rhythmus im Blut, welches allerdings mit ziemlich viel Blei angereichert ist. In frischer Luft würde ein Einheimischer das Gefühl haben: „Hier fehlt doch etwas“. Damit meint er die würzige Mischung aus Dieselruß, einer guten Prise CO2 und eben das Blei.

Oder um es an einem Beispiel bildhaft zu machen: Heute fuhr die städtische Ambulanz mit heulendem Martinshorn durch die Stadt. Als sie auf meiner Höhe angelangt war, musste sie kurz hinter einem Camion, der nur äußerst träge auf dem schmalen Streifen Platz machen konnte, vom Gaspedal runter. Als sie endlich durchstarten konnte, kam eine Dieselwolke aus ihrem Auspuff, wie ich sie hier noch nie gesehen hatte. Ohne jede Übertreibung.

Ich vermute Absicht dahinter: Die Ambulanz nebelt die Umgebung ein, damit genügend Rohstoff – sprich Patienten – für die Spitäler nachwächst, den sie dann kostenpflichtig einsammeln kann. Nun ok, das ist eine Übertreibung...

Beduselt statt buddhistisch-gelassen

Jetzt wird auch klar, wieso das hier alles so harmonisch abgeht. Nicht buddhistische Gelassenheit ist die Ursache, das fahrende Volk ist schlicht und einfach beduselt von den atmosphärischen Verhältnissen. Wenn es noch eines Beweises bedarf, hier ist er, auch wenn er hundsgemein ist: Die Hunde von Hua Hin.

Sie schnüffeln das ganze Zeug notgedrungen über dem Asphalt ein, wo sich eine besonders hohe Konzentration davon bildet. Dann legen sie sich im besten Fall am Straßenrand nieder und hecheln ihren Rausch aus, ohne je nüchtern zu werden. Hin und wieder taumelt einer schlaftrunken auf die Fahrbahn und legt sich mittenhinein. Die Thais sehen das meist noch rechtzeitig und umfahren das Tier großzügig, es könnte ja auch die wiedergeborene Großmutter in ihm stecken – aber auch um Schaden von ihrem Fahrzeug abzuwenden. Wenn das Manöver nicht ganz gelingt, hat der „beste Freund des Menschen“ eine Auszeit ins Nirwana genommen...

…und liegt erst eine Weile im Straßengraben! Ein Schwarm Fliegen nimmt sich seiner fürsorglich an und wenn er Glück hat, sticht der Verwesungsgeruch nach ein paar Tagen einer sensiblen Seele derart in die Nase, dass der Kadaver entsorgt wird – in einen Graben ein bisschen weiter weg zum Nachbarn.

Verirrt sich ein Hund in die Nähe des Strandes und streift ihn eine frische Brise vom Meer, entlädt sich die verdrängte Beißhemmung und die Natur bricht sich Bahn. Unser Pizza-Wirt, ein Mann mit einem mächtigen Bauch, kann ein Lied davon singen. Er humpelte seltsam steif und o-beinig in seinem Restaurant herum. Auf unsere Frage nach dem Grund, druckste er erst ein bisschen herum und meinte dann, dass ihn ein streunender Hund ins Epizentrum seines männlichen Selbstverständnisses gebissen habe. Der Schaden sei zwar beträchtlich, aber nicht nachhaltig...

Auf dem Heimweg passierte ich den neuen Kreisel, der den Verkehr beim Bahnübergang in alle Himmelsrichtungen verteilt. Ich fuhr da – zugegeben – ziemlich schwungvoll hinein, was einen schwergewichtigen Farang, der auf seinem Töff aus einer Seitenstraße heranschoss, provoziert haben musste. Er trug einen viel zu kleinen Helm, unter welchem rosarote Hängebacken hervorquollen und hielt geradewegs auf mich zu. Ich wich ihm mit einem waghalsigen Schlenker aus, worauf sein Doppelkinn auseinanderklappte und ein lautstarker Rülpser zu hören war, der sich aber verdächtig nach „Arschloch!“ anhörte – mit einer alemannischen Färbung in der Stimmlage. Hoppla, ein unerwarteter Gruß aus der fernen Heimat. Ich suchte angeheimelt das Weite und ließ mich dankbar vom thailändischen Chaos verschlucken.

Über den Autor

Khun Resjek lebt mit seiner thailändischen Frau und Tochter in Hua Hin. Seine Kolumne „Thailand Mon Amour“ illustriert auf humorvolle Weise den Alltag im „Land des Lächelns“ aus der Sicht eines Farang und weist mit Augenzwinkern auf das Spannungsfeld der kulturellen Unterschiede und Ansichten hin, die sich im Familienalltag ergeben. Ein Clash der Kulturen der heiteren Art, witzig und prägnant auf den Punkt gebracht.

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Jurgen Steinhoff 21.01.19 08:17
Sehr unterhaltsame Schreibkunst!
Danke für einfühlsame und amüsante Zeilen. Der Respeckt der Thais für steunende Hunde, Schlangen usw wundert mich immer wieder. OK, sie sehen sie Möglichkeit, dass sie darin wiedergeboren werden, aber was ist mit den Schweinen, Hühnern usw. Warm sind nicht alle Thais Vegetarier?
Thomas Sylten 20.01.19 13:14
"Zebras ? Wir sind hier doch nicht in Alaska" - made my day :) :)