Taliban erobern weitere Gebiete - Druck wächst

Die afghanischen Sicherheitsbeamten patrouillieren in einem Dorf, nachdem sie das Gebiet von Taliban-Kämpfern im Bezirk Achin geräumt haben. Foto: epa/Ghulamullah Habibi
Die afghanischen Sicherheitsbeamten patrouillieren in einem Dorf, nachdem sie das Gebiet von Taliban-Kämpfern im Bezirk Achin geräumt haben. Foto: epa/Ghulamullah Habibi

KABUL: Die internationalen Truppen in Afghanistan sind mit dem Abzug beschäftigt. Das nutzen die Taliban offenbar: Alleine in dieser Woche erobern sie drei Bezirke. Ist dies der Beginn eines Sturmlaufs der Islamisten an die Macht?

Während die internationalen Truppen aus Afghanistan abziehen, machen die militant-islamistischen Taliban weitere militärische Fortschritte. Binnen 48 Stunden eroberten sie drei Bezirke in drei Provinzen, wie mehrere lokale Behördenvertreter und Parlamentsmitglieder am Samstag der Deutschen Presse-Agentur bestätigten. Somit sind seit Beginn des offiziellen Abzugs der US- und anderer Nato-Truppen mit 1. Mai mindestens sieben Bezirke an die Islamisten gefallen.

«Sie riefen am Abend an und sagten, sie hätten keine Wahl gehabt», erzählt der Parlamentarier Ismail Atikan aus der Provinz Nuristan im Osten des Landes am Samstag der dpa. Mehr als 20 Tage lang hatten die Taliban das Bezirkszentrum von Doab in Nuristan belagert und von jeglicher Versorgung abgeschnitten. Weder Essen oder neue Kräfte noch dringend benötigte Munition hätte dorthin gebracht werden können. Schließlich hätten Älteste in dem Gebiet mit den Taliban vereinbart, dass Polizisten, Militärs und Mitglieder der Bezirksverwaltung abziehen könnten, ohne dass sie angegriffen werden. «Sie haben am Ende den Bezirk dem Feind kampflos überlassen», sagt Atikan.

Die Taliban-Übernahmen anderer Bezirke in den vergangenen Wochen gingen bei Weitem nicht so blutlos über die Bühne. Seit Mai übernahmen die Taliban bislang 7 weitere der insgesamt rund 400 Bezirke Afghanistans. Einem jüngsten UN-Bericht zufolge kontrollieren oder kämpfen die Taliban um die Kontrolle von geschätzten 50 bis 70 Prozent des Territoriums des Landes außerhalb der Städte. Die Nato wollte sich auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur am Wochenende nicht zu den aktuellen Entwicklungen in dem Land äußern.

In den vergangenen Tagen fielen nach heftigen Gefechten im Süden des Landes die Distrikte Schenkai in der Provinz Sabul und Gisab in der Provinz Urusgan. Verlässliche Angaben zu Opferzahlen gab es zunächst nicht. Zuletzt war die Zahl der getöteten und verwundeten Sicherheitskräfte massiv gestiegen und laut einer Statistik der «New York Times» im Mai so hoch wie seit Juli 2019 nicht mehr. Vier Distrikte im Norden, Osten und Zentrum des Landes fielen im Mai, einer davon keine 30 Kilometer von der Hauptstadt Kabul entfernt.

Beobachter hatten eine Intensivierung der Kämpfe vorausgesagt, sobald die internationalen Truppen mit ihrem Abzug beginnen. Die Taliban würden das «neue Schlachtfeld» mit Sicherheit testen, hieß es. Die Islamisten sind angesichts des bevorstehenden US-Abzugs, ihrem Hauptziel in den vergangenen 20 Jahren, hoch motiviert.

Von den regulären Truppen der Armee und der Polizei kann man das aktuell kaum behaupten. Nicht wenige sagen, dass sie sich angesichts des bedingungslosen Abzugs der internationalen Truppen im Stich gelassen fühlen. Sie erklären die jüngsten Gebietsverluste so, dass vielerorts Posten jüngst mit unerfahrenen Offizieren besetzt wurden. Gleichzeitig gäbe es Generäle, die sich nun profilieren wollten und ohne wirklichen Plan Truppen auf gut Glück losschickten.

Die gut ausgebildeten und motivierten Spezialkräfte der Armee, die allerdings nur einen Bruchteil der Sicherheitskräfte ausmachen, müssen nun pausenlos überall im Land Brände löschen. Aus Militärkreisen heißt es auch, ein Teil der Militärführung sei gerade mehr damit beschäftigt, wertvolle Überbleibsel aus übergebenen US-Camps wie gepanzerte Autos für persönliche Zwecke zu sichern, statt Gebiete zu verteidigen.

Die Taliban profitierten zuletzt auch vom Verhandlungsgeschick ihrer politischen Vertreter im Golfemirat Katar. Diese hatten im Vorjahr im USA-Taliban-Abkommen vereinbart, dass die USA bis zum Abzug keine Offensivoperationen mehr gegen Taliban ausführen. Die gefürchteten nächtlichen Angriffe von US-Spezialkräften auf hochrangige Taliban-Kommandeure blieben so aus. Auch die Zahl der US-Luftschläge nahm signifikant ab. Das erlaubte den Islamisten unter anderem, in größeren Zahlen als früher und insgesamt ungestörter zu operieren.

Der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network bemerkt das aktuelle Tempo der Angriffe. «Die Eroberung von mehreren Distrikten in wenigen Tagen hat es lange nicht gegeben», sagt er. «Die Taliban wollen den militärischen Druck hochhalten, die Regierungstruppen beschäftigen und vielleicht auch durch Überlastung demoralisieren», sagt Ruttig.

Für die Regierung seien die Übernahme der Bezirkszentren - die Gebiete rund um diese seien ja meist schon lange in der Hand der Taliban - Kontroll- und Souveränitätsverluste. Noch aber handle es sich eher um periphere Gebiete. Ruttig will daher noch keinen «großen Marsch» der Taliban an die Macht erkennen. Bezirkszentren würden immer wieder auch zurückerobert. Für signifikante militärische Fortschritte ginge es eher um Provinzhauptstädte.

Das afghanische Verteidigungsministerium versucht, zu beruhigen. In einem Krieg gebe es Fort- und Rückschritte, sagt der Sprecher Rohullah Ahmadsai über die Gebietsverluste. Es gebe einen Plan, die Bedrohungen zu beseitigen und die Situation zu verbessern. «In diesen Gebieten wird sich die Situation sehr bald normalisieren.»

Unklar ist, ob die USA und andere Nato-Truppen zu einer solchen Normalisierung noch viel beitragen. Sie sind damit beschäftigt, tonnenweise Material aus dem Land zu schaffen oder - zum Ärgernis vieler Afghanen - vor Ort zu vernichten. Das US-Militär gibt keine Auskünfte, ob es noch Luftschläge ausführt. Es teilte diese Woche lediglich mit, es schätze, rund 30 bis 44 Prozent des Abzugs sei abgeschlossen. Bis spätestens 11. September sollen alle internationalen Soldaten aus dem Land sein. Die Friedensgespräche treten weiter auf der Stelle.

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Ingo Kerp 05.06.21 13:10
Die Schamfrist ist abgelaufen. Zum 1. Mai haben die Taliban mit weiteren Eroberungen begonnen. Der verschobene Abzugstermin der US Truppen spielt dabei keine Rolle mehr. Man kann nur hoffen, das es am 11. 09. in Kabul nicht eine Wiederholung gibt wie beim US Abzug im März 1973 in Saigon.