Steine, Blutwischer und falsche Vorhersagen

Die Biennale in Venedig

Eine Frau geht an dem Wrack eines Fischerbootes vorbei, das 2015 mit 700 Migranten an Bord im Mittelmeer versunken ist. Foto: Antonio Calanni/Ap/dpa
Eine Frau geht an dem Wrack eines Fischerbootes vorbei, das 2015 mit 700 Migranten an Bord im Mittelmeer versunken ist. Foto: Antonio Calanni/Ap/dpa

VENEDIG (dpa) - Die Masse an Kunst droht einen zu erschlagen. Nicht umsonst vergleicht der diesjährige Kurator die Biennale in Venedig mit einem zehnstündigen Film. Und mindestens bei einem Objekt ist nicht allen klar, ob es Kunst ist.

Vor Großbritannien: eine Schlange. Vor Frankreich: eine noch längere Schlange. Vor dem deutschen Pavillon wirkt es dagegen verwaist. Wenn nicht gerade - wie am Freitagnachmittag - der Bundesaußenminister zur Einweihung auf der Kunst-Biennale in Venedig anrückt. Das Hauptportal: dicht. Nur durch Seiteneingänge gelangt man in Räume, die heruntergekommen wirken. Wenig Tageslicht fällt hinein. Sehr große Steine liegen auf dem Boden. Eine Wand, gebaut wie ein Staudamm, zieht sich bis knapp unter die hohe Decke. Dahinter schwirren Klänge durch den Raum: elektronische Beats, der Ton von Trillerpfeifen.

Es geht hier um Migration, Zusammenleben und vielleicht auch um ein Deutschland, das durch seine Zuwanderungspolitik geworden ist wie der Pavillon: weniger einladend. Bei der Eröffnung hat die Künstlerin ihren Kopf in einem steinartigen Helm versteckt. Ihren Namen hat sie angepasst. Eingedeutscht, könnte man meinen. Natascha Süder Happelmann. Sie treibt ein Spiel mit Identitäten. Kategorien und Zuschreibungen, die unser Leben bestimmen, werden infrage gestellt. Doch all das bleibt dem Betrachter verborgen. Erklärt wird - abgesehen vom ausliegenden Katalog - nichts. Die Messlatte ist hoch: Bei der letzten Biennale 2017 hatte die Künstlerin Anne Imhoff den Goldenen Löwen für die Gestaltung des Pavillons abgeräumt.

Der deutsche Beitrag passt aber zu dem Motto, mit dem die 58. Ausgabe des Mega-Kunstevents überschrieben ist: «May You Live In Interesting Times». Kurator Ralph Rugoff hat darauf verzichtet, ein festes Thema zu wählen. Biennale-Präsident Paolo Baratta hatte betont, die Ausstellung müsse «offen und grenzenlos» bleiben. Damit haben die Künstler viel Raum bekommen. Auch für schwierige Themen.

Die Größe und Komplexität der Biennale ist nicht nur für den Besucher eine echte Herausforderung. «Es ist, als würde man einen zehnstündigen Film statt einen zweistündigen machen, denn die Kunst-Biennale ist fünfmal größer als jede andere normale Ausstellung», sagte Kurator Rugoff kürzlich in einem Interview. Für die zwei Teile der Hauptausstellung hat der US-Amerikaner und Leiter der Londoner Hayward Gallery rund 80 Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt eingeladen, ihre Werke in den Gärten Giardini della Biennale und dem alten Industrie- und Werftgelände Arsenale zu präsentieren. Hinzu kommen Beiträge von etwa 90 Nationen.

Für Gesprächsstoff, gar Protest sorgte vor dem offiziellen Start der Biennale an diesem Samstag ein Objekt. Besser gesagt: ein Wrack. Es ist das blau-braune Boot, mit dem im April 2015 Hunderte Flüchtlinge von Libyen aus nach Europa gelangen wollten. Doch schätzungsweise starben 800 Menschen, möglicherweise sogar noch mehr. Gegenüber von kaffeetrinkenden Besuchern steht das Boot wie ein Mahnmal am Wasser. Der Schweizer Künstler Christoph Büchel hat es unter dem Namen «Barca Nostra», «Unser Boot», ausgestellt. Kritik kam von Italiens rechter Regierungspartei Lega. Der verstörende Anblick verfolgt einen Besucher bis in den Bus auf dem Lido. «Ist das Kunst?», fragt er sein Gegenüber. Die Frau entgegnet, auf der Biennale erreiche es eben die größte Öffentlichkeit.

Damit sollte sie recht behalten. Schon für die Vorbesichtigungstage sind neben den Künstlern Massen an Journalisten, Sammler, Kunst- und Partybegeisterte in die italienische Lagunenstadt gekommen, um sich die Kunstschau anzusehen, die bis zum 24. November läuft. So viel Kunst auf einmal droht einen zu erschlagen. Einige Werke lassen den Betrachter ratlos zurück. Andere sind womöglich zu eindeutig, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Aus der Masse sticht ein schwarzer Industrie-Roboter hervor, der in einer Art Glaskäfig sein Werk verrichtet. Es sieht aus wie Blut, das da gegen die Scheibe klatscht, sobald der Roboter mit einer Art Wischer am Ende seines Arms wieder ein bisschen der roten Suppe in die Mitte des Raums kehrt. Aber selbst das programmierte Gerät schafft es nicht, die Flüssigkeit unter Kontrolle zu halten. «Can't Help Myself» haben die chinesischen Künstler Suan Yuan und Peng Yu das Werk genannt, für das sie dem Roboter insgesamt 32 Bewegungen beigebracht haben. Sie haben etwas überraschend graziles, fast menschliches.

Videokunst gibt es zum Beispiel von der deutschen Künstlerin Hito Steyerl zu sehen. Auf Stegen, wie sie auch in Venedig bei Hochwasser eingesetzt werden, wandelt man zwischen digitalen Blumen eines in der Zukunft verlorenen Gartens. Videos laufen auf verschiedenen Projektionsflächen ab. Es geht um Zukunftsvorhersagen durch künstliche Intelligenz, um ihre Gefahr und Unzuverlässigkeit. «Weil die Zukunft vorhersehbar wurde, ist die Gegenwart unvorhersehbar geworden», sagt eine Stimme an einer Stelle, dann kommen deutsche Rechtsextreme ins Bild. Warum niemand den Brexit habe kommen sehen, wird an anderer Stelle gefragt.

Zu sehen bekommt man auf der Mega-Schau auch ein zersägtes Motorrad von der deutschen Künstlerin Alexandra Bircken. Die australischen Zwillingsschwestern Christine und Margaret Wertheim werfen mit ihren aus kleinen Perlen geknüpften Korallen ein Schlaglicht auf die Gefährdung von Ökosystemen wie Korallenriffen durch die globale Erwärmung und Plastikmüll.

Dem Klimawandel widmet sich der litauische Beitrag: Die Urlauber an einem künstlich aufgeschütteten Strand sind Sänger, die über das alltäglich gewordene Weltreisen und seinen Effekt auf das Klima oder über das Artensterben singen. Daneben geht es sowohl in der Hauptausstellung als auch in den Länderbeiträgen immer wieder um Identität, Herkunft und Tradition - zum Beispiel in Kanada, Finnland oder Brasilien.

Die Frage nach der Zugehörigkeit sei die Frage unserer Zeit, sagt der aus Kamerun stammende und in Berlin lebende Kurator und Kunstkritiker Bonaventure Soh Bejeng Ndikung. Und es sei die Aufgabe der Kunst und Künstler, «andere Modelle des Zusammenseins und Zusammenlebens» zu präsentieren.

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