Spitzensteuern für Mittelverdiener?

Neue Debatte um Steuerlast

Eine Frau bedient das Portal der deutschen Steuerverwaltungen zur Abwicklung der Steuererklärungen und Steueranmeldungen über das Internet, Elster. Foto: Marijan Murat/Dpa
Eine Frau bedient das Portal der deutschen Steuerverwaltungen zur Abwicklung der Steuererklärungen und Steueranmeldungen über das Internet, Elster. Foto: Marijan Murat/Dpa

BERLIN (dpa) - Man muss nicht zu den Reichen zählen, um in Deutschland den Spitzensteuersatz zu zahlen. Neue Zahlen werfen die Frage auf: Belastet unser Steuersystem die Falschen? In Berlin sorgt das für eine ungewöhnliche Koalition.

Kaum jemand hält sich selbst für einen Spitzenverdiener - doch blickt man in die Steuererklärung sind die Deutschen ein Volk der Reichen. Fast jeder Elfte verdient so viel Geld, dass er den Spitzensteuersatz zahlen muss. Mehr als 3,5 Millionen Bundesbürger betraf das 2015. Tendenz stark steigend: Für 2018 geht die Bundesregierung bereits von mehr als vier Millionen Spitzensteuersatz-Zahlern aus. Das trifft auch viele, die gar nicht so viel mehr als den Durchschnittslohn verdienen. Diese Erkenntnis sorgt in Berlin angesichts voller Kassen für eine ungewöhnliche politische Allianz.

Der Spitzensteuersatz von 42 Prozent ist für Top-Verdiener gedacht - er wird in Deutschland nur noch durch die sogenannte Reichensteuer von 45 Prozent getoppt, die für sehr hohe Einkommen anfällt. Den Spitzensteuersatz dagegen zahlten 2015 auch 1,7, Millionen Arbeitnehmer, die nicht viel mehr als 5.000 bis 7.000 Euro brutto verdienten. Das geht aus der Regierungsantwort auf eine Anfrage der Linksfraktion hervor, über die die «Süddeutsche Zeitung» berichtete. 5.000 bis 7.000 Euro, das ist etwa das 1,5-fache des Durchschnittseinkommens. Im Jahr 1965 fiel man erst mit dem 15-fachen des Durchschnittsgehalts unter den Spitzensteuersatz.

Mehr als 126 Milliarden Euro steuerten die Spitzensteuersatz-Zahler 2015 für den Staat bei. Die aktuellsten Daten sind fünf Jahre alt, weil dies das bisher letzte abgeschlossene Finanzjahr ist. Für spätere Jahre sind noch nicht alle rückwirkend abgegebenen Steuererklärungen ausgewertet. Doch die Bundesregierung weiß schon jetzt: Der Trend wird sich fortsetzen.

Viele Arbeitnehmer würden schon mit mittlerem Gehalt zu Spitzenverdienern erklärt, kritisiert Linksfraktionschef Dietmar Bartsch deshalb. Immer mehr Menschen müssten den Spitzensteuersatz zahlen, ohne ein Spitzeneinkommen zu haben.

Dabei ist Deutschland nicht gerade knapp bei Kasse. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) verkündete gerade stolz einen Rekordüberschuss im Bundeshaushalt. 13,5 Milliarden Euro sind übrig, hauptsächlich wegen niedriger Zinsen, aber auch rekordhoher Steuereinnahmen. Höchste Zeit, dass die Bürger vom Geldsegen etwas abbekommen, meinen Oppositionsparteien. Die Kritik: Kanzlerin Angela Merkel (CDU) habe in ihrer gesamten Regierungszeit Geld angehäuft - den Bürgern aber kaum etwas zurückgegeben. Zeit für eine Steuerreform?

Tatsächlich sind die 42 Prozent der niedrigste Spitzensteuersatz, den Deutschland in der Nachkriegszeit je hatte. Er gilt seit 2005, eingeführt von Bundeskanzler Gerhard Schröder (2005). Zuvor lag der Spitzensatz deutlich höher, bei bis zu 56 Prozent von 1975 bis 1989.

Die heutigen 42 Prozent fallen dabei nicht auf die gesamten Einkünfte an, sondern auf den Anteil oberhalb eines zu versteuernden Einkommens von rund 56.000 Euro (2019). Diese Grenze wurde zuletzt stetig angehoben - stieg allerdings weniger stark als die Löhne. Auch das ist ein Grund dafür, dass mehr Bürger unter den Spitzensatz fallen.

Nach mehr als einem Jahrzehnt ohne Reform und angesichts der Milliarden-Überschüsse trommeln vor allem zwei Parteien für eine Senkung des Spitzensteuersatzes. FDP-Parteichef Christian Lindner sagte der «Süddeutschen Zeitung»: «Es ist eine Schande, dass sich der Spitzensteuersatz bis tief in die Gesellschaft vorgefressen hat. Hier reden wir nicht über Manager und Profifußballer, sondern den Facharbeiter in der Autoindustrie oder die Personalreferentin in einem mittelständischen Betrieb.» Linken-Fraktionschef Bartsch ergänzt: «Wir sollten diese Facharbeiter und Menschen mit mittleren Einkommen aus der Spitzenbesteuerung rausholen.»

Im politischen Berlin lässt das aufhorchen, sind FDP und Linke doch sonst selten einer Meinung. «Dass sich FDP und Linke mittlerweile schon zusammentun müssen, um für Entlastungen zu kämpfen, zeigt, wie groß der Wunsch nach Steuersenkungen in der breiten Bevölkerung ist», meint FDP-Fraktionsvize Christian Dürr. Die Bundesregierung dagegen will von Steuerentlastungen für die Mittelschicht erst einmal nichts wissen. Scholz machte kürzlich klar, die Überschüsse seien längst verplant, unter anderem für mehr Investitionen. Die Union legt den Fokus auf Entlastungen für Unternehmen.

Regierungssprecher Steffen Seibert betonte am Montag, Ziel sei es, dass die Mittelschicht möglichst viel von ihrem erarbeiteten Geld übrig habe. Organisationen wie die OECD kritisieren jedoch, dass Arbeitnehmer in Deutschland mehr Geld an den Staat zahlen als anderswo. Ein europäischer Vergleich zeigt: Nur in Belgien war die durchschnittliche Last durch Sozialabgaben und Einkommensteuer 2018 höher als in Deutschland. Selbst die Dänen, als Land mit Rekordsteuern bekannt, zahlten weniger.

Die Reformen der vergangenen Jahre seien vor allem den Reicheren zugute gekommen, analysieren Wirtschaftsforscher. Eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln zeigt aber auch: Wer als Alleinstehender 60.000 Euro im Jahr verdient, wird inflationsbereinigt heute niedriger besteuert als 1986 oder 1996.

Kein Grund, die Mittelschicht nicht zu entlasten, wenn man es kann, meinen Linke und FDP. Bartsch schlägt vor: Wer weniger als 7.100 Euro brutto im Monat hat, soll weniger zahlen. «Wer mehr hat, zahlt mehr und finanziert die Entlastungen.» Da hören sie dann auf, die Gemeinsamkeiten von Linken und FDP. Denn Mehrbelastungen für Reichere lehnt die FDP ab. Stattdessen will sie für die einkommenstärksten zehn Prozent auch den Solidaritätszuschlag streichen.

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