Skandal um verschwundene Kinder

​Graböffnung am Montag

Kinderbeerdigung der Familie Sassoon in Jerusalem. Foto: epa/Jim Hollander
Kinderbeerdigung der Familie Sassoon in Jerusalem. Foto: epa/Jim Hollander

TEL AVIV: Die Affäre um verschwundene Kinder von Juden aus muslimischen Ländern ist eine der schmerzhaftesten der israelischen Geschichte. Auf der Suche nach der Wahrheit wurde nun bei Tel Aviv ein Kindergrab geöffnet. Was dabei gefunden wird, erschüttert die Familie.

«Usiel Churi, Sohn von Michael, 7.4.1953», steht auf dem schlichten Grabstein auf dem Segula-Friedhof in Petach Tikva bei Tel Aviv. Doch liegt das 1952 geborene Kind wirklich hier begraben? Oder lebt es womöglich noch? Diese Fragen quälen die Familie schon seit fast 70 Jahren. Usiel ist eines von Tausenden von Kindern jüdischer Einwanderer aus dem Jemen und anderen muslimischen Ländern, die laut Zeugenaussagen in den 1950er Jahren in Israel unter ungeklärten Umständen verschwanden.

Um endlich Gewissheit zu schaffen, wird das Kindergrab am Montag geöffnet. Es befindet sich in einer Reihe von Gräbern, die sehr dicht beieinander liegen. Vorsichtig wird die Grabplatte abgehoben, dann im Boden gegraben. Ein Experte des Gesundheitsministeriums versucht, verwendbare DNA-Proben aus der Erde zu gewinnen. Zwei Schwestern Usiels sind bei der Untersuchung zugegen. Die beiden älteren Damen sind sichtbar mitgenommen. Sie verfolgen die Grabungen mithilfe einer Videoübertragung.

Nach Stunden des angespannten Wartens in praller Sonne dann die Mitteilung: «Man sagte uns, sie seien bei den Grabungen nicht auf eine, sondern auf zwei Leichen gestoßen», sagt Churis 64 Jahre alte Schwester, Masal Berko. Die Prüfung sei daher vorerst abgebrochen worden. Erst nach einer Gerichtsentscheidung könne sie fortgesetzt werden. Berko ist sehr enttäuscht. Das Gesundheitsministerium äußert sich vorerst nicht offiziell zum Ergebnis der Grabungen.

«Seit ich mich erinnern kann, hängt diese Affäre wie eine dunkle Wolke über meiner Familie», erzählt Berko. Sie ist das sechste von insgesamt acht Kindern der Familie Churi. Die Eltern waren 1948 von der tunesischen Insel Dscherba nach Haifa gekommen.

Laut der israelischen Organisation Amram, die sich für die Wahrheitsfindung in der Affäre einsetzt, stammten zwei Drittel der verschwundenen Kinder aus dem Jemen, der Rest aus Nordafrika sowie dem Iran und dem Irak, einige wenige vom Balkan.

Mit der «Operation fliegender Teppich» kamen rund 50.000 Juden aus dem Jemen in den jungen Staat Israel. Die Umstände in provisorischen Aufnahmelagern waren oft chaotisch. In der Zeit verschwanden zahlreiche Babys und Kleinkinder unter ungeklärten Umständen - viele jemenitische Juden warfen den israelischen Behörden vor, sie gezielt an kinderlose Holocaust-Überlebende weitergegeben zu haben. Den Eltern habe man erklärt, die Kinder seien im Krankenhaus gestorben und sofort begraben worden. Nach Schätzungen geht es um 1500 bis 5000 Kinder.

Viele Schicksale konnten nie eindeutig geklärt werden - so wie das von Usiel. Der Junge erkrankte im Alter von 10 Monaten an Kinderlähmung. Für die Nachbehandlung mussten die Eltern, die damals außer Usiel schon drei weitere Kinder hatten, weit fahren. «Die Sozialbehörde bot meinen Eltern deshalb Hilfe an, sie nahmen Usiel mit und versprachen, ihn nach der Behandlung zurückzubringen», erzählt die Schwester. «Das Kind war gesund, er hinkte nur noch ein bisschen. Ein paar Tage später wurde meinem Vater dann plötzlich mitgeteilt, der Junge sei gestorben.» Die Krankenschwestern hätten ihm nur ein «Bündel in weißen Laken» gezeigt und gesagt, sie würden das Kind begraben. Ihre Eltern seien damals gutgläubige Neueinwanderer gewesen.

Später begannen die Fragen. Es habe immer wieder Unstimmigkeiten und Hinweise gegeben, dass das Kind noch leben könnte. Vor rund drei Jahrzehnten habe man ihnen dann ein Grab mit Grabstein in Petach Tikva gezeigt. Die Familie bekräftigt am Montag die Forderung nach einer DNA-Untersuchung durch einen unabhängigen Experten. «Wir vertrauen dem Staat leider nicht», sagt Berko.

Nach einer Öffnung von Archiven 2016 war der zuständige Minister Zachi Hanegbi zum Schluss gelangt, Hunderte jemenitischer Kinder seien den Eltern weggenommen und weggegeben worden. Im vergangenen Jahr hatte die Regierung Entschädigungszahlungen in Höhe von 162 Millionen Schekel (rund 46 Millionen Euro) für betroffene Familien angekündigt. Dies wurde jedoch von Angehörigen als «Schweigegeld» verurteilt.

Die betroffenen Familien werfen den israelischen Behörden eine systematische Verschleierung seit Jahrzehnten vor. Die europäisch geprägte Gründergeneration habe damals auf Einwanderer aus arabischen Ländern herabgeschaut und sie für primitiv gehalten. «Rassismus spielte sicherlich eine Rolle», meint Berko.

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Leserkommentare

Vom 11. bis 21. April schließen wir über die Songkranfeiertage die Kommentarfunktion und wünschen allen Ihnen ein schönes Songkran-Festival.

Thomas Sylten 23.05.22 13:50
Spannend -
bitte über den Fortgang berichten, lieber Farang