«Serotonin» von Michel Houellebecq

Glückshormone statt Provokation

Archivbild: epa/Ennio Leanza
Archivbild: epa/Ennio Leanza

PARIS (dpa) - Zynisch, sexistisch, kritisch und düster: Das neue Buch von Michel Houellebecq trägt alle typischen Stilelemente des Autors. Dennoch ist etwas neu an dem Roman. Nicht nur, weil Provokation und Polemik fehlen.

Er ist Mitte Vierzig, ledig und total depressiv. Ein «houellebecqscher» Antiheld. In «Die Möglichkeit einer Insel» hieß er Daniel, in «Plattform» Michel, und François in «Unterwerfung». Im neuen Buch von Michel Houellebecq, Enfant terrible der französischen Literatur, heißt er Florent-Claude. «Serotonin» ist ein typisches Houellebecq-Werk mit einem Protagonisten, der lebens- und liebesmüde ist. Dennoch liest sich der Roman des Bestseller- und Skandal-Autors anders als sonst.

««Serotonin» markiert die Rückkehr von Michel Houellebecq zur Literatur», titelte die französische Tageszeitung «Le Monde». Und schrieb weiter: «Sein neues Buch, zwischen Angst und Ironie, verzichtet auf Polemik und macht der Möglichkeit der Liebe Platz.» In Frankreich ist das Buch bereits am 4. Januar in den Buchhandel gekommen, in Deutschland erscheint es am 7. Januar.

Houellebecqs neuer Romanheld heißt Florent-Claude Labrouste, ist 46 Jahre alt und hasst seinen Vornamen. Sein Job im Landwirtschaftsministerium interessiert ihn schon lange nicht mehr, ebenso wenig seine japanische Freundin Yuzu, die einen Hang zu Gruppensex und Sodomie hat. Zu seinen Drogen gehört neben dem Rauchen Captorix, ein auf dem Glückshormon Serotonin basierendes Antidepressivum.

Des Lebens und vor allem seiner Lebensgefährtin müde, beschließt Florent-Claude, einfach freiwillig zu verschwinden. Innerhalb kürzester Zeit gibt er in Paris Job und Wohnung auf, wechselt die Bank und zieht in der Hauptstadt in ein Hotel, das noch Raucherzimmer besitzt. Vereinsamung, Entfremdung, Ziellosigkeit: Bekannte Symptome der Romanfiguren Houellebecqs.

Der Goncourt-Preisträger gilt als begnadeter Beobachter, manche sehen ihn ihm sogar einen Visionär. «Plattform» aus dem Jahr 2001, das von Sextourismus in Thailand handelt, endet mit einem Anschlag auf ein Feriendorf. Ein Jahr später wurden auf Bali bei einem islamistisch motivierten Angriff mehr als 200 Menschen getötet.

Diesmal beschreibt Houellebecq die zunehmende Verarmung der französischen Landbevölkerung durch Fabrikschließungen und Verlegungen von Produktionsstätten ins Ausland. Dabei schildert er eine Szene, die an jene erinnert, die in Frankreich seit Mitte November die «Gelbwesten» inszenieren.

Auf der Normandie-Autobahn A 13 protestieren Landwirte mit einer Straßenblockade gegen die niedrigen Milchpreise. Es kommt zu Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften, bei denen ein Polizist und zehn Bauern ums Leben kommen.

Einige Medien haben Houellebecq deshalb zum «Propheten der Gelbwesten» gekürt und sehen in dem Buch eine Reaktion auf die französische Krise. Das ist weder falsch noch richtig. Die Verarmung der Landbevölkerung ist ein schleichender Prozess. Seit Jahren schon wird vor den «Vergessenen Frankreichs» gewarnt. In «Serotonin» bestätigt Houellebecq sein wiederkehrendes Thema: die Konsequenzen einer von der globalen Wirtschaft bestimmten Welt.

Neben dem gesellschaftlichen Aspekt von «Serotonin» überrascht der Schriftsteller diesmal jedoch mehr durch seine Vision der Liebe. Das Buch wäre kein echter Houellebecq, gäbe es nicht seine pornografischen Ausführungen über Sex. Doch diesmal lässt der Autor hinter dem desillusionierten Zyniker eine Romanfigur erscheinen, die mehr denn je an die wahre Liebe glaubt.

Houellebecq legt seinem Protagonisten Sätze wie «Ein einziges Wesen fehlt ihnen und alles ist zu Ende» in den Mund oder «die intellektuellen Fähigkeiten haben in einer Freundschaft kaum Bedeutung und noch weniger in einer Liebesbeziehung. Sie haben nur wenig Gewicht im Vergleich zur Herzensgüte.» So kann man «Serotonin» auch als Hymne an die romantische Liebe lesen. Erst im September 2018 hat Houellebecq die junge Chinesin Qianyum Lysis geheiratet. In seinem neuen Buch sei er so romantisch wie nie, meint die Akademikerin und Houellebecq-Spezialistin Agathe Novak Lechevalier.

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