Sehnsucht nach Fremde

Corona und das Fernweh

Ein Strand wie gemalt - hier in Kolumbien: Solche „Urlaubsparadiese“ in der Ferne sprechen Sehnsüchte an. Foto: Catherine Waibel/dpa-tmn
Ein Strand wie gemalt - hier in Kolumbien: Solche „Urlaubsparadiese“ in der Ferne sprechen Sehnsüchte an. Foto: Catherine Waibel/dpa-tmn

Die Ferne war so nah. Ob Mexiko, die USA, Kenia, Thailand oder Neuseeland: All diese Länder liegen eigentlich nur ein paar Flugstunden entfernt, doch nun sind sie für Touris­ten vorerst unerreichbar. Fast alle Grenzen wurden wegen Corona erst einmal geschlossen. Was macht das mit unserem Fernweh?

„Vor Corona habe ich Fernweh als ein rein positives Phänomen empfunden, eine Gedankenflucht im Alltag, ein Reise-Tagtraum, den man aber ganz konkret umsetzen konnte“, sagt Elisaveta Schadrin-Esse. „Während Corona habe ich die frustrierende Reisesehnsucht kennengelernt, die Sehnsucht nach der Fremde, die von außen in Schranken gewiesen wird und zumindest vorübergehend unerfüllt bleiben muss.“ Das aktuelle Gefühl sei für sie daher kein Fernweh. „Der Unterschied liegt für mich in der Freiwilligkeit des Daheimbleibens.“ Schadrin-Esse weiß, wovon sie spricht: Sie ist Herausgeberin und Chefredakteurin des Reisemagazins „The Fernweh Collective“ aus Berlin. „Als ich die Idee zum Magazin hatte, war ich Ende zwanzig und von Dauerfernweh geplagt“, erzählt sie. Vielen ihrer Freunde, die als Schreiber und Fotografen für das Heft arbeiten, ging es ähnlich.

Das neue Fernweh: Ausgang ungewiss

Es ist eine diffuse Gemütsregung, die Reisende unter den Vorzeichen einer globalen Pandemie derzeit neu ausloten: Fernweh. Schadrin-Esse gibt folgende Definition: „Fernweh ist für mich die Sehnsucht nach der Fremde, nach Eindrücken und Empfindungen, die so nicht in der eigenen Kultur und Region gemacht werden können, gepaart mit der Vorfreude darauf, diese Sehnsucht irgendwann tatsächlich durch eine Reise zu stillen.“ Diese Aussicht ist nun ungewiss.

Doch wie viel Ferne braucht es überhaupt für das Fernweh? Es lasse sich nicht durch die Distanz zum Wohnort beschreiben, sagt die Magazin-Chefin, eher durch eine Andersartigkeit des Erlebens. „Daher würde ich vermuten, dass Fernweh nach Hiddensee oder Tirol für in Deutschland Lebende eher untypisch ist.“ Heimische Regionen zu bereisen, würde sie eher als Lust am lokalen Entdecken betrachten. „Es ist das Gegenteil von Fernweh“, sagt Schadrin-Esse. Echtes Fernweh ist demnach eher der Hunger nach anderen, fremden Lebenswelten, die in der Vorstellung der meisten Reisenden wohl eher weit weg zu finden sind. Je ferner, desto besser.

Exotische Traumbilder

„Es waren die Naturforscher des 18. und 19. Jahrhunderts, die im Geist der Aufklärung die Vorstellung von den ‚Primitiven‘, ‚Wilden‘ und ‚Barbaren‘ in der Ferne durch die Bezeichnung ‚Naturvölker‘ ersetzten“, erklärt der Tourismusforscher Horst Opaschowski. Plötzlich sei die Geringschätzung und Verachtung der Einheimischen in höchste Bewunderung umgeschlagen. „Die Ursprünge des modernen Ferntourismus wie Südsee-, Karibik- und Afrikareisen liegen in dieser Zeit“, sagt Opaschowski. „Tropik, Exotik und Karibik prägen die Sehnsucht der Deutschen nach fernen Zielen bis heute.“ Doch es dauerte eine lange Zeit, bis solche fernen Destinationen für Urlauber tatsächlich greifbar wurden.

Zwischen Nische und Masse

In den 1950er und 1960er fuhren die allermeisten mit dem Auto oder dem Zug in den Urlaub. Der Pauschaltourismus mit Charterflügen entwickelte sich in den 1970er-Jahren, doch die Reiseziele lagen vor allem am Mittelmeer, in Spanien etwa oder Griechenland. Florida, die Karibik, Hawaii, Thailand und Ceylon (Sri Lanka) blieben exotisch. Bis heute machen Fernreisen nur einen kleinen Teil aller Urlaubsreisen aus. Im Jahr 2019 waren es laut FUR-Reiseanalyse 8,4 Prozent – wobei das, gemessen am gesamten Reiseaufkommen, schon wieder gar nicht so wenig ist. Reisen etwa nach New York, Südafrika, Thailand oder Bali sind hierzulande keine Rarität mehr.

Obwohl die Ferne näher gekommen und erschwinglicher geworden ist, wurde sie dennoch nicht entzaubert, findet Opaschowski: „Der Ferntourismus ist nach wie vor das gekaufte Paradies“ – ein Ideal, also ein verklärter Ort: „Sonne, Sand, Strand, Sonnenliegen und ganz im Hintergrund ein paar Einheimische als Kulisse“, so der Forscher. „Sie sollen eigentlich nicht zu nah kommen.“

Was die Zukunft bringt

Ob das Fernweh stark genug ist, damit die Urlauber sofort wieder nach Nordamerika, Asien oder Afrika fliegen, sobald die Pandemie abklingt? Das wird sich zeigen müssen. „Die selbsternannten Reiseweltmeister müssen grundlegend umdenken“, glaubt Opaschowski. „Ihnen wird bewusst, dass in Corona-Krisenzeiten ferntouristische Ziele nicht mehr so einfach käuflich sind.“ Manche würden wohl auch über einen neuen Lebens- und Reisestil nachdenken und seltener und weniger in die Ferne reisen, schätzt der Tourismusexperte. „Die Statusmerkmale des Reisens müssen vielleicht neu bestimmt werden. Auch die Bereisten gehen in sich.“

Schadrin-Esse hat persönlich nicht den Eindruck, dass sich die empfundene Ferne für andere Kontinente verändert hat. „Das Gefühl ist nicht, dass die Länder ferner sind, sondern dass ich als Individuum von der Welt abgeschnitten bin.“ Und wohin soll es gehen, wenn die Pandemie vorbei ist? „Nach Sansibar.“

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Francis Light 13.09.20 22:27
@Thomas
Ah, ok, alles klar... ;)

Wer hätte das alles so gedacht? Im April hoffte man auf Juni/Juli/August, jetzt ist Mitte September und es ist kein Ende in Sicht. Es hat schon besser ausgesehen, jedoch sind, also in A, gerade seit Mitte August die Zahlen an Neuinfektionen wieder gestiegen. Ich wage jetzt keine Einschätzung mehr zu machen. Das mit Mallorca und Kroatien war im nachhinein gesehen viel zu früh, um diese als Urlaubsziel zu öffnen. Andereseits hat die Geduld der Leute zum Ausharren auch irgendwo seine Grenzen.

Mir ist schon klar, wir in D A CH jammern allgemein auf hohem Niveau, fast alle haben noch ihren Job, wenn auch viele in Kurzarbeit. Weltweit leiden sicher mehr als genug aufgrund von Corona und den damit verbundenen Massnahmen so richtig. Wir kannten eben so eine lang dauernde Einschränkung bis jetzt noch nicht.
Thomas Sylten 13.09.20 21:37
@Francis: Das mit dem Planeten meinte ich auch so - hat mit dem Virus natürlich weniger zu tun, er muss aber trotzdem schleunigst gerettet werden (wg. Umwelt, Klima etc). Schon damit auch unsere Enkel noch irgendwohin verreisen können..
Francis Light 13.09.20 20:22
@Thomas Sylten
Genau. Die Sehnsucht ist auch bei mir viel grösser weil 1) man/ich schon ungewohnt lange Zeit ununterbrochen zuhause in A bin und 2) psychologisch, weil man eben nicht wirklich verreisen kann und sich dadurch der Freiheit beraubt fühlt (und auch das nicht in absehbarer Zeit in Aussicht ist). 3) Sehnsucht, das hoffen, dass die "alten Zeiten" zurückkommen (was aber m. E. immer unwahrscheinlichr wird; d.h. ich vermute, es wird nicht mehr so sein/werden, wie früher. Man wird misstrauischer behandelt, beschränkt und eventuell zu sehr überwacht werden - ist jetzt nur Vermutung).

Planet retten ist jetzt aber eine kleine Übertreibung. Die Erde und die Natur ist durch das Virus sicher nicht in Gefahr. Die Umwelt, die Ökosphäre ist durch den Menschen in Gefahr.

Herr Englich, zuviel unnötiger Ärger ist nicht gut für den Blutdruck!
Thomas Sylten 13.09.20 19:22
@Herr Englich: Wer ist denn so disziplinlos ?
Es ging doch nur um die Sehnsucht -
Realisierung auch für "Disziplinlose" zurzeit ausgeschlossen.
Die Sehnsucht spüre ich jetzt sogar stärker als sonst, wo ich das ja theoretisch jederzeit realisieren konnte - jetzt halt mal ne Zeitlang nicht. Geht hoffentlich auch wieder vorüber -
wobei uns klar sein muss dass es auch einige dauerhafte Veränderungen geben muss, wenn wir den Planeten retten wollen..
Francis Light 13.09.20 15:22
Herr Englich
Bin absolut NICHT Ihrer Meinung.