«Rechtsextremer Anschlag richtet sich gegen uns alle»

Foto: epa/Omer Messinger
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BERLIN (dpa) - Ein Rechtsextremist soll den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erschossen haben. Nicht nur der Bundesinnenminister sieht darin ein Alarmsignal. Doch warum hatten die Behörden den Tatverdächtigen nicht auf dem Radar? Und: Handelte er allein?

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat den Mord an Regierungspräsident Walter Lübcke als schockierend bezeichnet. «Ein rechtsextremer Anschlag auf einen führenden Repräsentanten unseres Staates ist ein Alarmsignal und richtet sich gegen uns alle», sagte er am Dienstag in Berlin. Das Bundeskriminalamt (BKA) stuft derzeit 34 Personen aus dem rechten Spektrum als Gefährder ein. Der Verfassungsschutz geht von 12.700 gewaltbereiten Rechtsextremisten in Deutschland aus. Nach Medienberichten prüft die Bundesanwaltschaft Hinweise auf mehrere Täter im Fall Lübcke.

Der Kasseler Regierungspräsident war in der Nacht zum 2. Juni mit einer Schussverletzung am Kopf auf der Terrasse seines Wohnhauses in Wolfhagen-Istha entdeckt worden. Der 65-Jährige starb wenig später im Krankenhaus. Die Bundesanwaltschaft geht von einem politischen Attentat mit rechtsextremem Hintergrund aus. Unter dringendem Tatverdacht sitzt der 45-jährige, vorbestrafte Stephan E. in Untersuchungshaft.

Bisher schweigt der Tatverdächtige zu den Vorwürfen. Die Bundesanwaltschaft hatte am Montag erklärt, es gebe bisher keine Hinweise, dass eine terroristische Vereinigung hinter dem Mord stecke. Seehofer betonte am Dienstag, ob der Tatverdächtige allein gehandelt habe oder Teil eines Netzwerks sei, sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht klar.

Nach Informationen von «Süddeutscher Zeitung», NDR und WDR gibt es Hinweise, dass der Täter nicht allein gehandelt hat. So wolle ein Zeuge in der Tatnacht zwei Autos bemerkt haben, die in «aggressiver Manier» durch den Wohnort von Lübcke gefahren seien. 20 Minuten zuvor habe der Zeuge, ein ehemaliger Bundeswehrsoldat, einen Schuss gehört. Bereits im Haftbefehl gegen Stephan E., den eine Richterin des Amtsgerichts Kassel am Samstag ausstellte, habe es geheißen, es gebe «Hinweise auf Mittäter oder Mitwisser».

Der Tatverdächtige hat sich nach Erkenntnissen der Ermittler zwar viele Jahre in rechtsextremen Kreisen bewegt, stand aber zuletzt nicht mehr unter besonderer Beobachtung der Behörden. Stephan E. sei in den letzten zehn Jahren nicht mehr so deutlich als Rechtsextremist in Erscheinung getreten, sagte Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Seehofer und dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Holger Münch.

Laut Münch ist der Mann in der Vergangenheit durch zahlreiche Straftaten auffällig geworden. Unter anderem soll er laut Medienberichten 2009 in Dortmund an einem Angriff von Rechtsextremen auf eine 1. Mai-Kundgebung des DGB beteiligt gewesen sein und schon 1993 einen Anschlag auf ein Asylbewerberheim im hessischen Hohenstein-Steckenroth verübt haben.

E. habe eine Art rechtsextremistische Karriere vor allem in den 1980er und 1990er Jahren begonnen, seit der Zeit sei er auf dem Radar des Verfassungsschutzes. Zuletzt sei er aber «eher in den Hintergrund der Beobachtung getreten», sagte Haldenwang. Zu dem Mordvorwurf habe sich der Tatverdächtige bisher nicht geäußert, sagte Münch. Auch die Tatwaffe sei bislang noch nicht gefunden. Der Verdächtige sei Mitglied in einem Schützenverein, habe aber keine Waffenbesitzerlaubnis für Schusswaffen gehabt.

Der Vorsitzende des Schützenclubs 1952 Sandershausen, Reiner Weidemann, bestätigte, dass Stephan E. Mitglied in dem Verein war. Er habe dort aber nur mit dem Bogen geschossen und keinen Zugriff auf Feuerwaffen gehabt. Der Schützenverein liegt in Niestetal-Sandershausen, einem Vorort von Kassel.

E. war Referent des Clubs für Bogenschießen. «Er war freundlich und ruhig», erklärte Weidemann. E. sei seit rund zehn Jahren dabei gewesen und nicht durch rechte Parolen aufgefallen. Im Club habe E. meist etwas abseits Bogen geschossen. Der 45-Jährige hatte nach Angaben des Vorsitzenden auf dem Vereinsgelände keine Feuerwaffen oder Zugang dazu: «Bei uns im Verein hatte er keine Waffenbesitzkarte.» Auch fehle nichts von den Vereinswaffen. Schießen mit Feuerwaffen hätte E. unter Aufsicht gedurft, was er allerdings nicht genutzt habe.

Der Zentralrat der Juden erklärte, der Fall zeige in erschreckender Weise, dass die Gefahren durch rechte Netzwerke und Rechtspopulismus bis hin zum rechten Terror nicht unterschätzt werden dürfen. Auch wenn die Ermittlungen abzuwarten seien, müsse dieses Verbrechen alle Demokraten alarmieren, sagte Präsident Josef Schuster.

Sachsen und Thüringen wollen entschiedener gegen sogenannte Reichsbürger, Rechtsrockkonzerte und Hasspostings im Internet vorgehen. Das erklärten die Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) und Bodo Ramelow (Linke) in Altenburg. Ramelow kündigte an, dass Thüringen eine Klage bis zum Bundesverfassungsgericht erwäge: «Ich finde, ein gewerberechtliches Rechtsrockkonzert, also ein Konzert, bei dem Eintritt genommen wird, kann nicht das Privileg der Demonstration in Anspruch nehmen.» Nötig sei eine Grundsatzentscheidung.

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