Schuldzuweisungen nach Eskalation an griechisch-türkischer Grenze

Foto: epa/Maxar Technologies
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BRÜSSEL/ATHEN: Es soll Verletzte gegeben haben an der türkisch-griechischen Grenze, sogar einen Toten. Ankara und Athen überziehen sich gegenseitig mit Vorwürfen. Deutschland schickt mehr Grenzschützer - und diskutiert über die Aufnahme Minderjähriger.

Berichte über einen getöteten Migranten an der griechisch-türkischen Grenze haben die Spannungen zwischen Ankara und Athen verschärft. Türkische Medien hatten berichtet, griechische Grenzschützer hätten einen Mann erschossen, mehrere Migranten seien verletzt worden. Ein griechischer Regierungssprecher dementierte das am Mittwoch entschieden und sprach von «fake news».

Die EU-Kommission kündigte an, Griechenland in der angespannten Migrationslage mit einem Sechs-Punkte-Plan zu helfen. Die Innenminister der 27 EU-Staaten berieten in Brüssel über geeignete Maßnahmen zum Schutz der europäischen Außengrenze. Erst müsse dort Ordnung geschaffen werden, dann könne man über humanitäre Hilfen für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge auf den griechischen Inseln sprechen, sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer unmittelbar vor dem kurzfristig anberaumten Sondertreffen.

Jedes EU-Land solle pro halber Million Einwohner je zehn unbegleitete Minderjährige «aus diesem Loch herausholen», schlug Luxemburgs Minister Jean Asselborn in Brüssel vor. Auch Frankreich und Finnland hatten ihre Bereitschaft zur Aufnahme von Kindern und Jugendlichen erklärt. «Ich denke, das ist eine sehr gute Idee», sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. «Es ist dringend nötig, sie von diesen Bedingungen auf den Inseln wegzubekommen und einen Zufluchtsort für sie zu haben.» Seehofer drang auf eine europäische Lösung: «Es müssen möglichst viele mitmachen.»

Seit die Türkei am Wochenende die Grenzen zur EU für offen erklärt hatte, ist der Druck auf die griechischen Grenzen deutlich gestiegen. Nach UN-Angaben harren Tausende Migranten auf der türkischen Grenzseite aus. Viele wollen weiterziehen.

Augenzeugen berichteten von Schüssen im griechisch-türkischen Grenzgebiet, es gibt Bilder von Verletzten aus dem Krankenhaus im türkischen Edirne. Das Gouverneursamt der türkischen Grenzprovinz Edirne teilte mit, Schüsse griechischer Grenzbeamter hätten einen Migranten getötet und fünf weitere verletzt. Der Getötete weise einen Einschuss an der Brust auf. Die Oberstaatsanwaltschaft ermittele.

Eine dpa-Reporterin an der Grenze hatte am Vormittag zunächst mindestens drei, kurz darauf eine Serie weiterer Schüsse gehört. Danach sei ein Ambulanzwagen mit hohem Tempo aus dem Grenzgebiet gefahren, berichtete sie.

Griechenland sichert die Grenze mit Härte. Sicherheitskräfte setzten Blendgranaten und Tränengas ein, um Menschen zurückzudrängen. Menschenrechtler und Migrationsforscher kritisieren das Vorgehen scharf. Nach Angaben griechischer Sicherheitskräfte sollen auch Migranten auf der türkischen Seite mit Tränengas ausgestattet sein.

Der Vizepräsident der EU-Kommission, Margaritis Schinas, sicherte seinem Heimatland Griechenland weitere Unterstützung zu. «Wenn Europa getestet wird, können wir beweisen, dass wir die Stellung halten und unsere Einheit siegen wird», sagte er. Der Brüsseler Sechs-Punkte-Plan sieht vor, dass die EU-Asylagentur Easo 160 Experten der EU-Staaten entsendet. Die Grenzschutzagentur Frontex soll außerdem ein neues Programm für schnelle Rückführungen für jene Menschen auflegen, die nicht in Griechenland bleiben dürfen. Zudem müsse die EU sich besser mit den Westbalkanstaaten abstimmen.

Einige Punkte des Plans waren bereits bekannt. So hatte Frontex auf Bitten Griechenlands bereits angekündigt, die Hilfe an der Grenze zur Türkei auszubauen. Griechenland soll zudem bis zu 700 Millionen Euro für das Migrationsmanagement bekommen. Außerdem hat Athen den Katastrophenschutz-Mechanismus der EU ausgelöst, um etwa mit medizinischer Ausrüstung, Zelten und Decken versorgt zu werden. Deutschland will Griechenland mit 20 zusätzlichen Grenzschützern und einem seetauglichen Hubschrauber unterstützen. Bisher beteiligten sich 60 Bundespolizisten an den Frontex-Einsätzen in Griechenland.

«Jetzt braucht es die volle Unterstützung für Griechenland. Wir müssen alle daran denken, dass das, was wir erleben, keine zufällige humanitäre Krise ist, sondern eine gelenkte und akkordierte Aktion der Türkei gegen Europa», sagte der österreichische Innenminister Karl Nehammer. «Griechenland schützt gerade die EU-Außengrenze, schützt damit auch die österreichische Außengrenze.»

Auch der griechische Regierungssprecher Stelios Petsas sprach von einer organisierten, konzertierten Aktion. Die Menschen würden gezielt mit Bussen von türkischen Städten aus an die Grenze gebracht und per Kurzmitteilungen über die angeblich offene Grenze informiert.

Ein Schiff der griechischen Marine erreichte am Mittwoch die Insel Lesbos, um Hunderte Migranten an Bord zu nehmen. Die rund 400 Betroffenen, die seit dem 1. März die Ostägäis-Insel von der Türkei aus erreichten, sollen zunächst an Bord des Schiffes bleiben, dann in ein geschlossenes Camp auf dem Festland gebracht und anschließend in ihre Herkunftsländer ausgewiesen werden, wie ein Offizier der Küstenwache der Deutschen Presse-Agentur sagte. Auf Lesbos leben nach offiziellen Angaben mehr als 20.000 Flüchtlinge und Migranten.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagt in Ankara, er habe klargemacht, dass die EU von der Türkei die Einhaltung des 2016 geschlossenen Flüchtlingspakts erwarte. Er habe das Land dazu aufgefordert, Flüchtlinge nicht dazu zu ermuntern, an die Grenze mit Griechenland zu reisen. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu schrieb auf Twitter, er habe im Gespräch mit Borrell deutlich gemacht, dass die EU ihre Versprechungen gegenüber der Türkei nicht einhalte und dass Europa Verantwortung übernehmen müsse.

Die EU kündigte zusätzliche 170 Millionen Euro an Hilfsgeldern an. Das beinhalte 60 Millionen Euro, die für die humanitäre Krise in Nordwestsyrien vorgesehen seien, hieß es in einer Erklärung nach einem zweitägigen Besuch einer EU-Delegation in Ankara.

In Deutschland forderte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich die von CDU und Grünen regierten Länder auf, sich zur Aufnahme minderjähriger Flüchtlinge aus griechischen Lagern bereitzuerklären. Alle SPD-geführten Länder hätten das am Mittwoch getan, sagte Mützenich nach einer Sonder-Fraktionssitzung. Familienministerin Franziska Giffey (SPD) betonte, eine Lösung könne nur auf europäischer Ebene gelingen.

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