Schockstarre in Thailand: Yingluck entzieht sich Schuldspruch

Ex-Premierministerin auf der Flucht – Gescheitert ist auch die Aussöhnung

Bad in der Menge rotgewandeter Sympathisanten: Yingluck Shinawatra setzte wie ihr Bruder stets auf Emotionalität und war sich der Liebe ihrer Anhängerschaft bis zuletzt sicher.
Bad in der Menge rotgewandeter Sympathisanten: Yingluck Shinawatra setzte wie ihr Bruder stets auf Emotionalität und war sich der Liebe ihrer Anhängerschaft bis zuletzt sicher.

BANGKOK: Was ist heute passiert, in Thailands oberstem Gerichtshof? Der meistbeobachtete Prozess in der Landesgeschichte geplatzt. Die Angeklagte, Ex-Premierministerin Yingluck Shinawatra, erschien nicht: Schwindelanfälle, sagten ihre Verteidiger und doch fehlte anschließend jede Spur von der charismatischen Nordthailänderin, die bis zuletzt versprochen hatte, sich dem heute fälligen Urteilsspruch des Supreme Court in Bangkoks Laksi Distrikt zu stellen.

Ihr älterer Bruder Payap war im Gerichtssaal, auch ihre große Schwester Monthathip. Sie warteten ebenso vergeblich wie die 3.000 Sympathisanten von Yingluck Shinawatra (50) vor dem Justizgebäude. Die Obersten Richter reagierten mit Härte. 30 Millionen Baht Kaution wurden sofort eingezogen und umgehend ein Haftbefehl ausgestellt. Ist nun nach Thaksin Shinawatra (68), dem seit 2008 landesflüchtigen Ex-Premierminister, die zweite große Figur der Familie aus Thailand geflohen?

Es ranken sich wilde Verschwörungstheorien, bevor der Verbleib von Yingluck geklärt ist. Der Schuldspruch des Supreme Court, argwöhnen ihre Unterstützer im Norden und Nordosten Thailands, sei festgestanden. Der im Jahr 2014 weggeputschten Premierministerin drohten die Verhaftung im Gerichtssaal und zehn Jahre hinter Gittern wenig komfortabler Strafvollzugsanstalten. Das ist nichts für eine Milliardärin, deren Familie seit der Amtszeit ihres Bruders und Mentors Thaksin Shinawatra im Jahr 2001 zu einer der reichsten und einflussreichsten des Landes aufgestiegen ist.

Kaum einer fragte heute, worum es in diesem Prozess vor Thailands höchstrichterlicher Instanz eigentlich gegangen wäre. Immerhin um einen Reissubventionsskandal, der den Steuerzahler geschätzte acht Milliarden Euro gekostet hat. Unter der Regie ihres im Exil lebenden Bruders Thaksin war die Thaichinesin 2011 als erste Frau seit 60 Jahren an die politische Spitze des Landes gewählt worden – in einem Erdrutschsieg, den sie vor allem den treuen Bauern im Norden Thailands zu verdanken hatte.

Mit einem landwirtschaftlichen Hilfsprogramm ihrer Pheu Thai Partei bedankte sich Yingluck Shinawatra zurück, politische Beobachter erkannten in einer großangelegten Reis-Subventionskampagne die deutliche Handschrift ihres flüchtigen Bruders Thaksin. Die Regierung wollte Millionen von Tonnen Reis zu Preisen weit über dem internationalen Marktwert aufkaufen und sicherte den armen Reisbauern damit verbundenen Wohlstand zu. Die Rechnung ging nicht auf.

Zurück blieben Unmengen verdorbenen Reises, Milliarden von Baht waren in dubiosen Kanälen versickert, der Weltmarktpreis für Reis fiel, am Ende blieb ein so großes Loch im Etat der Yingluck-Regierung, dass viele Bauern nicht einmal für ihren gelieferten Reis ausbezahlt werden konnten. In monatelangen Untersuchungen förderten die von der nachgefolgten Militärregierung beauftragten Kommissare Unregelmäßigkeiten bei der Lagerung und Bezahlung der Reisbestände zu Tage und der Sturz von Yingluck Shinawatra am 7. Mai 2014 wurde mit ihrer Führungsrolle in diesem Reisskandal begründet.

Derart komplizierte Zusammenhänge spielen in der thailändischen Wahrnehmung politischer Realitäten eine untergeordnete Rolle, und dennoch blieb dieser juristisch nachbearbeitete Milliardenverlust wie ein Damoklesschwert über der abgesetzten Premierministerin hängen. Seit den ersten Ermittlungen im Sommer 2014 war ihr vom Nationalen Rat für Ordnung und Frieden (NCPO) der Militärregierung angedroht worden, dass sie persönlich mit Mitgliedern ihrer Regierung für den entstandenen Schaden geradestehen müsse.

Wäre der heute geplatzte Prozess damit ein rein politisches Instrument gewesen oder auch eine legitime juristische Aufarbeitung eines strafwürdigen Versagens einer unfähigen Landesregierung? Beide Fragen sind zu bejahen – wäre da nicht die besondere thailändische Befindlichkeit. Natürlich ging es im Verfahren gegen Yingluck Shinawatra auch um einen Schauprozess, der den Massen der Verehrer des Shinawatra-Familienclans demonstrieren sollte: Ihr seid betrogen worden um Brot und Lohn, während diese Milliardäre weiterhin in Saus und Braus leben.

Ging dieses Kalkül auf? Die Frage ist zu verneinen. Selbst wenn Yingluck Shinawatra heute aufgetaucht und verurteilt oder freigesprochen worden wäre. Thailands Dilemma klebt neben den seit Jahren gewälzten Streitthemen mit faulen Subventionsprogrammen und bürgerkriegsähnlichen Protesten wie fauler Dünger zwischen den Fronten. Es ist die Ungleichheit in diesem Land, in dem Superreiche immer reicher werden und den ärmlichen Rest des Landes kaum am steigenden Wohlstand teilhaben lassen.

Bis zur ersten Shinawatra-Ära im Jahr 2001 mit Thaksin, dem umtriebigen und skrupellosen Großunternehmer, hatte keiner den armen Teufeln in Nordostthailand das Gefühl gegeben, sie seien ein wichtiger Teil dieses Landes. Obwohl sich alle seit Generationen weidlich aus den Reis- und Kornkammern der Millionen von Bauern ernähren, blieben deren Entlohnung und ihr Stellenwert in der Gesellschaft gering geschätzt. Die böse Floskel vom ‚dummen Bauern‘ aus dem Isan mag keiner laut ausgesprochen haben. Sie steckt jedoch in den Köpfen fest und Thaksin Shinawatra gab dieser vergessenen großen Volksgruppe 2001 erstmals eine Stimme und ein Gesicht.

Dass der einstige Heilsbringer wegen diverser Finanzskandale und nachgewiesener Steuerhinterziehung in Milliardenhöhe als erster der Shinawatra-Familie aus dem Amt und aus dem Land vertrieben wurde, hat ihm im Norden des Landes kaum einer übel genommen. Bis heute vereint er die Massen mit regelmäßigen Videobotschaften und seinem Zugriff auf die Politik Thailands. Ein Schuldspruch gegen seine kleine Schwester Yingluck, die ohne ihn nie auf die Idee gekommen wäre, Premierministerin dieses zerrissenen Landes zu werden, hätte neuerliche Massenproteste nach sich gezogen, mit der Gefahr eines drohenden Bürgerkrieges.

Es mag absurd klingen, aber unter diesem Gesichtspunkt ist der abrupte Abgang – oder sollte man richtigerweise sagen – die Flucht, die am wenigsten explosive Variante vieler möglicher Szenarien. Keiner verliert zunächst sein Gesicht. Eskalationen sind nicht zu erwarten. Außer, die umtriebige Armee treibt die 50 jährige aus Chiang Mai bei ihrer fieberhaften Fahndung auf und in eine Gefängniszelle. Daran möchte kaum jemand denken…

Thailand selbst bleibt derweil stecken in einem Prozess der Reformunfähigkeit. Vieles klingt nicht nach einem demokratischen Gleichgewicht. Die umstrittene Durchsetzung der neuen Verfassung, die darin verankerte Stärkung des Militärs und ihrer Zugriffsmöglichkeiten im Krisenfall, die eingeschränkte Meinungs- und Versammlungsfreiheit, das mangelnde Fingerspitzengefühl der amtierenden Junta-Regierung in Menschenrechtsfragen, und vorne dran wie ein Menetekel die Korruption in fast allen Lebensbereichen.

Die Verurteilung einer Premierministerin wegen politischen Versagens klingt im Vergleich wie ein Kinderspiel. Dass nicht einmal das gelingt, ist ein Spiegel der thailändischen Mentalität. Das Sein ist nicht viel wert und der Schein umso mehr. Yingluck Shinawatra wollte sich ein Schicksal in einem thailändischen Gefängnis ersparen. Das ist nachvollziehbar, beweist aber auch, wie gering der Glaube in ein unabhängiges Justiz- und Rechtssystem ist.

Eigentlich bleibt alles beim Alten und es könnte bald von vorne losgehen und knallen. Man bleibt rot wie die Rothemden der einstigen Pheu Thai Partei oder gelb wie die Gelbhemden der bürgerlichen und königstreuen Kaste. Man steht in einem Lager und wer sich dort hinausbewegt, gilt als Abtrünniger oder Verräter.

Genau genommen hat sich nur eines positiv verändert. Die Armeeführung hat eine lähmende Ruhe im Land geschaffen, mit der sich laut Umfragen viele Thais anfreunden. Die groß angekündigte Versöhnung der zerstrittenen Parteien kann nicht als misslungen bezeichnet werden. Sie hat noch nicht einmal ihr Anfangsstadium überstanden.

Quelle: Fotos: Archiv

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