Schlappe für Johnson

​Gesetz gegen No-Deal-Brexit nimmt weitere Hürde

Foto: epa/Jessica Taylor
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LONDON (dpa) - Alles deutet darauf hin, dass Boris Johnson das Ringen mit den No-Deal-Gegnern im Unterhaus verliert. Auch eine Neuwahl dürfte ihm vorerst verwehrt bleiben. Doch damit ist der EU-Austritt ohne Abkommen noch nicht abgewendet.

Die Gegner eines ungeordneten EU-Austritts im britischen Parlament haben Premierminister Boris Johnson eine erneute Niederlage bereitet. Die Abgeordneten stimmten am Mittwoch in zweiter Lesung mehrheitlich für ein Gesetz, das einen No-Deal-Brexit am 31. Oktober verhindern soll. Sie konnten ihre Mehrheit gegenüber dem Vortag sogar noch um zwei Stimmen ausbauen. Am Dienstag hatte Johnson bereits eine deutliche Niederlage kassiert, als es darum ging, ob das Gesetzgebungsverfahren stattfinden kann.

Johnson musste am Abend damit rechnen, dass der Gesetzentwurf auch in dritter Lesung durchgeht. Mit der Abstimmung wird erst nach 20 Uhr (MESZ) gerechnet. Für diesen Fall will der Premier noch am selben Abend über eine Neuwahl am 15. Oktober abstimmen lassen.

Die Chancen des Premierministers, sich damit durchzusetzen, stehen jedoch schlecht. Um eine Neuwahl auszurufen, ist eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten notwendig. Die Opposition hat bereits angekündigt, dass sie erst für eine Neuwahl stimmen wird, wenn ein EU-Austritt ohne Abkommen vom Tisch ist.

Bevor das Gesetz gegen den No Deal in Kraft treten kann, muss es auch noch das Oberhaus passieren. Dort lauern mehrere Fallstricke. Brexit-Hardliner könnten versuchen, mit einer Flut von Anträgen und Filibuster (Dauerreden) viel wertvolle Zeit zu verschwenden.

Daher haben die No-Deal-Gegner bereits am Mittwoch eine Tagesordnungsdebatte anberaumt mit dem Ziel, die Redezeit im Oberhaus ausnahmsweise zu begrenzen. Die Vorlage wurde umgehend zum Ziel einer Antragsflut aus den Reihen der Brexit-Hardliner. Erwartet wurde, dass die Debatte mindestens bis spät in die Nacht andauert.

Das Gesetz gegen den ungeregelten EU-Austritt soll Johnson dazu zwingen, eine dreimonatige Verlängerung der Brexit-Frist zu beantragen, sollte bis zum 19. Oktober kein Abkommen mit der EU ratifiziert sein. Der Antrag müsste dann von den übrigen 27 EU-Mitgliedstaaten einstimmig gebilligt werden.

Johnson will Großbritannien am 31. Oktober aus der Staatengemeinschaft führen, «komme, was wolle». Er hofft, Brüssel damit zu Zugeständnissen bei dem bereits drei Mal im Unterhaus gescheiteren Brexit-Deal bringen zu können.

Für die Gegner eines ungeregelten Brexits gab es indessen einen Rückschlag: Das oberste schottische Zivilgericht wies eine Klage gegen die von Johnson erwirkte mehrwöchige Zwangspause des Parlaments ab. Das Gericht fühlt sich für diese Streitfrage nicht zuständig, wie britische Medien aus dem Gerichtssaal in Edinburgh berichteten.

Geklagt hatten etwa 75 Parlamentarier. Sie sehen in der von Johnson angestrebten wochenlangen Schließung des Unterhauses vor dem EU-Austritt des Landes Ende Oktober eine unzulässige Einschränkung des Parlaments. Sie legten umgehend Berufung ein. Bereits am Donnerstag soll es dazu eine Anhörung geben. Ähnliche Klagen wurden auch vor Gerichten im nordirischen Belfast und in London eingereicht.

Am Donnerstag sollte der Fall vor dem High Court in der britischen Hauptstadt verhandelt werden. Ein letztinstanzliches Urteil dürfte aber am Ende der Supreme Court fällen. Der Klage in London hatte sich auch der konservative Ex-Premierminister John Major angeschlossen.

Johnson hatte bei Königin Elizabeth II. erfolgreich beantragt, das Parlament in London von Mitte September bis Mitte Oktober zu suspendieren, um in einer neuen Sitzungsphase sein Regierungsprogramm vorzulegen. Der Schritt ist so kurz vor dem EU-Austrittsdatum Ende Oktober höchst umstritten. Die Gegner eines ungeregelten EU-Austritts stehen unter großem Zeitdruck.

Die Bundesregierung möchte die Auseinandersetzungen im britischen Unterhaus nicht kommentieren. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte in Berlin: «Die Bundesregierung beobachtet die Abläufe im britischen Parlament mit Interesse.»

Der CSU-Europapolitiker Manfred Weber forderte eine harte Linie der EU gegen die Regierung von Johnson. «Die Methode Johnson darf keinen Erfolg haben», sagte der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP) in Brüssel. «Die EU muss stark und geeint sein, es darf keine Neuverhandlungen geben.»

Johnson fordert Änderungen am EU-Austrittsvertrag und betont, die Chancen dafür seien gestiegen. Doch hat die EU-Seite bisher lediglich gesagt, falls Johnson konkrete neue Vorschläge mache, werde man sie sich anschauen. Dabei geht es um Alternativen zu der Garantieklausel für eine offene Grenze in Irland, zum sogenannten Backstop. Noch wartet die EU-Kommission aber auf die Vorschläge aus London.

Bei einem ungeregelten Brexit will die EU besonders hart getroffenen Mitgliedstaaten, Unternehmen und Arbeitnehmern mit bis zu 780 Millionen Euro helfen. Das Geld soll aus zwei bestehenden Hilfsfonds kommen, sagten EU-Beamte am Mittwoch. Diesen Vorschlag der EU-Kommission müssten das Europaparlament und die Mitgliedstaaten allerdings noch absegnen.

Angesichts der Lage in London bleibe ein EU-Austritt ohne Abkommen am 31. Oktober ein «möglicher, wenn auch nicht erstrebenswerter Ausgang». Alle «Interessenträger» seien erneut aufgefordert, sich auf ein No-Deal-Szenario vorzubereiten. Für Unternehmen veröffentlichte die Kommission eine Checkliste mit Hinweisen etwa zu künftigen Regeln, Genehmigungen, Zöllen und Steuern. Wer als Bürger eine Frage hat, kann gebührenfrei beim Call Center Europe Direct anrufen.

Die EU-Kommission brachte auch Notfallplanungen für drei neuralgische Brexit-Punkte auf den letzten Stand: Übergangsregeln für Güter-, Personen- und Luftverkehr, um am 1. November in jedem Fall die wichtigsten Verbindungen aufrecht zu erhalten; das Angebot einer Regelung auf Gegenseitigkeit für Fangrechte britischer und europäischer Fischer; und das Angebot an Großbritannien, auch in Zukunft an EU-Programmen teilzunehmen, wenn das Land weiter in den EU-Haushalt zahlt.

Wie die EU im Falle eines ungeregelten Brexits Kontrollen an der irischen Grenze vermeiden will, ist nach wie vor unklar. Die im Austrittsabkommen vorgesehene Backstop-Lösung sei dafür die «einzige Option, die gefunden wurde», erklärte die Kommission. Bei einem Austritt ohne Vertrag wäre diese aber hinfällig.

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