Schicksalswahl für Brasilien: Lula oder Bolsonaro?

Der brasilianische Ex-Präsident (2003-2010) und Kandidat der Arbeiterpartei (PT), Luiz Inacio Lula da Silva, und der PT-Kandidat für das Amt des Gouverneurs von São Paulo, Fernando Haddad, winken den Anhängern zu auf... Foto: Lincon Zarbietti/dpa
Der brasilianische Ex-Präsident (2003-2010) und Kandidat der Arbeiterpartei (PT), Luiz Inacio Lula da Silva, und der PT-Kandidat für das Amt des Gouverneurs von São Paulo, Fernando Haddad, winken den Anhängern zu auf... Foto: Lincon Zarbietti/dpa

BRASÍLIA: Beide Kandidaten haben den Wahlkampf mit harten Bandagen geführt: Die verfeindeten Lager überzogen sich mit Anschuldigungen, Beleidigungen und Falschinformationen. Nun droht eine Zerreißprobe für die tief gespaltene Gesellschaft im größten Land Lateinamerikas.

Bei der Präsidentenwahl in Brasilien haben sich der der linke Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva und der rechte Amtsinhaber Jair Bolsonaro nach Teilergebnissen ein Kopf-an-Kopf-Rennen geliefert. Nach Auszählung von fast 80 Prozent der Wahllokale kam Lula am Sonntag auf 50,25 Prozent der Stimmen, wie das Wahlamt mitteilte. Bolsonaro lag demnach bei 49,75 Prozent. Lula hatte die erste Runde am 2. Oktober gewonnen - allerdings deutlich knapper, als nach den Umfragen erwartet. Danach galt das Rennen wieder als völlig offen.

Der Wahlkampf war über Monate hinweg von schweren gegenseitigen Beschuldigungen und im Internet verbreiteten Falschinformationen geprägt. Bis zuletzt kämpften beide Kandidaten um jede Stimme. Präsident Bolsonaro streute immer wieder Zweifel am Wahlsystem und deutete an, das Ergebnis möglicherweise nicht anzuerkennen. Einige seiner Anhänger forderten unverhohlen einen Militärputsch.

Die Wahl hat über Brasiliens Grenzen hinaus erhebliche Bedeutung. Als riesiger Kohlenstoffspeicher spielt das Amazonasgebiet im Kampf gegen den weltweiten Klimawandel eine wichtige Rolle. Angesichts der angespannten Lage auf dem Energie- und Lebensmittelmarkt wegen des Ukraine-Kriegs ist Brasilien mit seinen enormen natürlichen Ressourcen auch ein wichtiger Handelspartner.

«Die Erwartung ist ein Sieg, zum Wohle Brasiliens», sagte Bolsonaro, nachdem er in Rio de Janeiro seine Stimme abgegeben hatte. Der Ex-Militär trug ein gelbes T-Shirt mit der Aufschrift «Brasil» und zeigte das Victory-Zeichen. «So Gott will, werden wir heute siegreich sein. Oder besser gesagt: Brasilien wird heute siegreich sein.» Lula küsste bei der Stimmabgabe seinen Wahlzettel. Er sagte: «Bei dieser Wahl geht es um die Entscheidung zwischen Demokratie und Barbarei, Demokratie oder Faschismus.»

Neben dem Präsidenten wurden am Sonntag auch Gouverneure in einem Dutzend Bundesstaaten gewählt - etwa im bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Bundesstaat São Paulo. In der ersten Runde hatten Gefolgsleute Bolsonaros bereits eine Reihe wichtiger Gouverneursposten erobert. Seine Liberale Partei (PL) stellt künftig auch die stärkste Fraktion im Kongress, vor Lulas Arbeiterpartei (PT).

Für Aufsehen sorgte am Samstag die PL-Abgeordnete Carla Zambelli, die in São Paulo nach einem Streit einen Mann mit vorgehaltener Waffe verfolgte. Um Gewalttaten zu verhindern, untersagte das Oberste Wahlgericht Zivilisten in den Tagen rund um die Stichwahl das Tragen von Waffen. Brasilianische Medien zitierten Zambelli am Sonntag nach dem Verlassen einer Polizeistation mit den Worten: «Ich werde bewaffnet wählen, auch mit einer kugelsicheren Weste. Ich werde bewaffnet und vorbereitet sein.»

Das Land ist politisch zerstritten, was sich bei der Befragung von Wählern auch am Sonntag zeigte. «Ich hoffe, dass Lula gewinnt, ich ertrage Bolsonaro nicht mehr», sagte Christiane Machado, nachdem sie im Viertel Copacabana in Rio de Janeiro ihre Stimme abgegeben hatte. «Das Erbe der PT ist zweischneidig. Es gab soziale Fortschritte, aber auch Korruptionsskandale. Man kann jedoch nicht fast 700.000 Corona-Tote ignorieren - darunter meine Eltern. Wenn Bolsonaro rechtzeitig Impfstoffe gekauft hätte, könnten sie noch am Leben sein.»

Dagegen stimmte Renata Proença für den amtierenden Präsidenten, um eine Rückkehr Lulas an die Macht zu verhindern. «Ich habe nie in meinem Leben der Linken, der Arbeiterpartei PT oder Lula meine Stimme gegeben», sagte sie. «An Bolsonaro gefällt mir, dass ich weiß, was von ihm zu erwarten ist - auch, wenn seine Äußerungen unerträglich sind.»

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