Wo die Nothilfe nicht reicht und Gewalt und Terror gären

​Sahel 

Eine Frau steht mit ihrem schwer unterernährten Kleinkind auf dem Arm in der Tür des Krankenhauses in einer von den Vereinten Nationen unterstützten Siedlung für Binnenflüchtlinge im Norden des Landes. Foto: Giles Clarke/dpa
Eine Frau steht mit ihrem schwer unterernährten Kleinkind auf dem Arm in der Tür des Krankenhauses in einer von den Vereinten Nationen unterstützten Siedlung für Binnenflüchtlinge im Norden des Landes. Foto: Giles Clarke/dpa

GENF/JOHANNESBURG: Gewalt, Armut, Klimawandel, Vertreibung: Afrikas Sahelregion droht zum Pulverfass zu werden. Angesichts des islamistischen Terrors ist schon von einem zweiten Afghanistan die Rede. Die UN warnen: Ohne neue Millionen dürfte auch Europa die Folgen bald zu spüren bekommen.

Drastischer geht es kaum: Millionen Menschen stünden in einem Epizentrum von Konflikt, Armut, Gewalt, Klimawandel, Unterentwicklung und starkem Bevölkerungswachstum, sagt der höchste Krisenmanager der Vereinten Nationen über die Lage in der Sahel-Region in Afrika. Eine Hungerkrise zeichne sich ab, und der Abgrund sei noch schneller erreicht worden als noch vor ein paar Monaten gedacht, erklärt der UN-Nothilfekoordinator Mark Lowcock.

Den Hungernden zu helfen sei das humanitäre Gebot der Stunde, sagt Lowcock der Deutschen Presse-Agentur, aber nicht nur das. Nothilfe sei ein zu kleines Pflaster für eine ständig tiefer werdende Wunde. Menschen gerieten in die Fänge von marodierenden Banden, Extremisten und Terroristen. Lowcock: «Sobald solche Leute Gebiete kontrollieren, fangen sie an, ihre nihilistische Agenda und ihre zerstörerischen Ideen zu verbreiten, zu exportieren und Anschläge zu planen.»

Am Dienstag kamen bei einer Geberkonferenz nach UN-Schätzung rund 1,7 Milliarden Dollar (1,4 Milliarden Euro) an Hilfsgeldern für die nächsten Jahre zusammen. Der genaue Spendenbetrag war zunächst nicht bekannt. Deutschland beteiligt sich laut Außenminister Heiko Maas (SPD) mit insgesamt 100 Millionen Euro. Neben der Nothilfe sollen vor allem Projekte für langfristige Entwicklung verstärkt werden. Die Zahl der Menschen, die Hilfe brauchen, ist seit März 2019 um 50 Prozent auf 13 Millionen gestiegen. In diesem Jahr sind 2,5 Milliarden Dollar (2,1 Milliarden Euro) nötig, um die Bedürftigsten zu unterstützen.

Die Sahel-Region ist ein rund 600 Kilometer breites Gebiet, das sich südlich der Sahara vom Atlantik über eine Länge von 5900 Kilometern bis zum Roten Meer erstreckt. Etliche bewaffnete Gruppen sind dort aktiv. Einige haben den Terrorgruppen Islamischer Staat (IS) oder Al-Kaida die Treue geschworen. Die frühere Kolonialmacht Frankreich hat dort bei der Anti-Terror-Mission «Barkhane» 5100 Soldaten im Einsatz. In Mali hilft auch die Bundeswehr im Anti-Terror-Kampf.

Unter den sieben Sahel-Staaten ist die Lage in Burkina Faso, Niger und Mali besonders prekär. In dem an die Sahara grenzenden Staat Burkina Faso wachsen die Flüchtlingszahlen so schnell wie in keiner anderen Region der Welt, so das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Mehr als eine Million Menschen sind auf der Flucht vor blinder Gewalt, die wahllos Männer, Frauen und Kinder trifft.

Bergab geht es in der Region seit etwa 2010. Ein Bürgerkrieg in Libyen läutet den Zusammenbruch des Gaddafi-Regimes ein. Zwei Jahre später kommt es zum Militärputsch in Mali. Über die wenig geschützten Grenzen werden Waffen frei verschoben, und die Terrorgruppe Boko Haram, die lange im Verborgenen wuchs, erstarkt und terrorisiert die Region mit Anschlägen. International bekannt wird sie durch die Entführung hunderter Schulmädchen 2014 in Nordosten Nigerias.

Die Gesellschaftsstrukturen brechen zusammen, auch durch die Klimakrise. Sie schürt Konflikte zwischen Bauern und Hirten, die um schwindendes fruchtbares Land streiten. Extremisten fachen Konflikte zwischen ethnischen Gruppen an, kriminelle Gangs locken Kinder mit falschen Versprechungen an und terrorisieren Nachbarschaften.

Um die Wurzeln des Übels zu packen, müssten Regierungen die Kontrolle über ihr Territorium zurückgewinnen, sagt Lowcock. Nicht leicht, denn: «Zu oft regieren dort Leute, die meinen, der Sinn öffentlicher Ämter sei es, sich zu bereichern statt der Bevölkerung zu dienen», sagte er gerade unverblümt bei einer Vorlesung in Paris. Oft seien Sicherheitskräfte überfordert und reagierten selbst mit Gewalt. Hier könnten andere Länder zum Beispiel mit Menschenrechtstrainings helfen und Sicherheitskräfte sensibilisieren, damit die Bevölkerung im Kampf gegen die Bedrohung hinter ihnen steht.

Er ist überzeugt, dass es auch in der Sahel-Region vorwärts gehen kann. Neben der Hungerhilfe müsse in die Entwicklung alternativer Einkommensquellen investiert werden. Die Region sei reich an natürlichen Ressourcen, etwa Solarenergie. Nigerias «Nollywood», wie die Film- und Videoindustrie in Anlehnung an das kalifornische Hollywood bezeichnet wird, zeige, welches Potenzial die Region habe.

Lowcock lobt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit, weil sie sich bei der Zukunftsentwicklung engagiere. Deutschland unterstützt etwa ein Projekt des Arbeiter-Samariter-Bundes, der mit 10.000 Menschen in Mali, Burkina Faso und Niger Saatlöcher in karge Wüstenflächen gräbt, die nach der nächsten Regenzeit Vegetation sprießen lassen sollen. «Die Sahel-Region hat keine Probleme, die nicht gelöst werden könnten», sagt Lowcock.

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Francis Light 20.10.20 15:07
Gerade in dem Gebiet, das eh schon kritisch ist wegen oft zuwenig Niederschläge und Ernährungssicherheit werden zuviele Kinder in die Welt gesetzt.