Russland im «Kriegschaos» - und Putin tut, als wäre nichts

Der russische Präsident Wladimir Putin leitet eine Sitzung mit Mitgliedern der Regierung in Moskau. Foto: epa/Gavriil Grigorov /sputnik / Kremlin Pool
Der russische Präsident Wladimir Putin leitet eine Sitzung mit Mitgliedern der Regierung in Moskau. Foto: epa/Gavriil Grigorov /sputnik / Kremlin Pool

MOSKAU: Drohnenangriffe in Moskau, Beschuss russischer Grenzregionen - das Echo von Kremlchef Putins Invasion in die Ukraine spüren immer mehr Menschen im eigenen Land. Auch die Kritik an seiner Kriegsführung ist laut. Doch der Präsident will das aussitzen. Kann das gut gehen?

Kremlchef Wladimir Putin fliegt sein Krieg gegen die Ukraine im Wortsinn fast um die Ohren. Erst flogen im Mai Drohnen über den Amtssitz des Präsidenten - die Flugabwehr schoss sie ab. Vor wenigen Tagen erlebte die Hauptstadt Moskau dann den ersten größeren Drohnenangriff seit Kriegsbeginn. In russischen Regionen an der Grenze zur Ukraine rennen Menschen wegen massiven Beschusses um ihr Leben. Schienenpartisanen verüben Anschläge gegen Bahnanlagen, um den Nachschub von Kriegsmaterial zu sabotieren. Immer wieder gibt es große Brände im Land. Doch Oberbefehlshaber Putin demonstriert auch nach gut 15 Monaten blutiger Invasion in die Ukraine Gelassenheit, tut, als geschehe nichts Weltbewegendes.

«Natürlich schlafe ich», sagte Putin bei einer Videoschalte mit Familien zum internationalen Kindertag am Donnerstag. Sechs Stunden Schlaf brauche er. Nur an diesem Tag sei die Nacht kurz gewesen. Da beschoss Putins Militär wieder die ukrainische Hauptstadt Kiew mit Drohnen und Raketen. Auch ein Kind starb. Doch Putins kurze Nacht hatte andere Gründe.

Die russische Grenzregion Belgorod erlebte erneut massive Angriffe von ukrainischer Seite. Ein Wohnhaus geriet in Brand. Menschen flohen - und beklagen seither, das Staatsfernsehen zeige nur einen Bruchteil der Zerstörungen und verschweige die Wahrheit. Anwohner forderten endlich «Schutz» durch den Staat. Weil Putin gegen die Ukraine Krieg führt und nun nicht einmal die Sicherheit des eigenen Staatsgebietes gewährleisten kann, wächst die Verärgerung auch vieler patriotisch eingestellter Russen spürbar. Für viele war der Krieg lange Zeit weit weg. Nun brennt er sich in den Köpfen ein.

«Die Angriffe in Belgorod zerstören endgültig den Mythos der Unbesiegbarkeit von Putins Militär», sagt der Politologe Abbas Galljamow. Für viele Russen sei der Glaube an die Stärke russischer Waffen stets das wichtigste Kriegsargument gewesen. Galljamow meint, der Machtapparat verliere durch nichts so sehr an Rückhalt wie durch die Unfähigkeit, die Menschen zu schützen.

Putin hingegen lässt durch seinen Sprecher Dmitri Peskow allenfalls ausrichten, dass die Lage in der Region zwar «alarmierend», aber unter Kontrolle sei. Prompt verkündet das Verteidigungsministerium die «Vernichtung» Dutzender Saboteure und «Terroristen». Aber die Lage bleibt gespannt. Fast täglich kommt es zu neuer Gewalt. Es gibt mehrere Tote und Verletzte.

Dabei wächst längst die Kritik an der Kriegsführung insgesamt - auch von Prominenten. Der frühere Chef der russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos, Dmitri Rogosin, verlangt neue Mobilmachungswellen. Die Putin-Vertrauten Ramsan Kadyrow, Anführer der Teilrepublik Tschetschenien, und der Chef der Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin, fordern eindringlich die Verhängung des Kriegsrechts, um härter durchzugreifen. Sie warnen vor einer Niederlage Russlands in dem Krieg mit zerstörerischen Folgen für das ganze Land.

Prigoschin betonte auch, es sei eine Umstellung auf Kriegswirtschaft notwendig, wenn Russland gewinnen wolle. Neben den Wagner-Söldnern stehen noch andere russische Privatarmeen bereit, den Krieg auf eine neue Ebene zu bringen. Der Ultranationalist und frühere Geheimdienstoffizier Igor Girkin, genannt Strelkow, beklagt indes ein zunehmendes «Kriegschaos» - auch mit Blick auf die Machtkämpfe etwa zwischen Prigoschin und dem Verteidigungsministerium. Immer wieder attestiert der Wagner-Chef Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow «Unfähigkeit».

Doch Putin schweigt und zögert. Kremlsprecher Peskow betont allenthalben, weder das Kriegsrecht noch eine neue Mobilmachung würden derzeit diskutiert. Russland werde alle Kriegsziele erreichen. Millionen Russen stünden hinter Putin und der «militärischen Spezialoperation», behauptet Peskow. Zu messen ist das kaum.

Putin und der Machtapparat sehen sich längst im Krieg mit dem «kollektiven Westen» unter Führung der USA, die es auf eine Zerstörung Russlands abgesehen hätten und dafür die Ukraine nur als Schlachtfeld nutzten. Diese Erzählung könnte Putin nach Meinung von Experten bis zur Präsidentenwahl tragen, weil die Konfrontation mit dem Westen als Thema bei vielen Russen traditionell verfängt. Schon jetzt sprechen sich auch Politiker außerhalb der Kremlpartei für eine neue Kandidatur Putins im März 2024 aus.

Unabhängige Beobachter hingegen meinen, Putin sei der Realität entrückt, vermeide auch Auslandsreisen, weil ein internationaler Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen in Kraft ist. Zu sehen ist Putin indes immer wieder bei Ordensverleihungen. Er zeichnet mutige Kämpfer und verdiente Mütter aus. Für Verdienste in der Raumfahrt gründete er gerade den Juri-Gagarin-Orden zur Erinnerung an den ersten Russen im Weltall. Und unlängst sagte er auf die Frage eines Kindes, dass es Ded Moros, den russischen Weihnachtsmann, «natürlich gibt» - und der wichtiger sei als er selbst.

Zu strategischen Fragen aber äußere sich Putin kaum noch, sagt die Politologin Tatjana Stanowaja. Linie des Kremls sei, auf keinen Fall in Alarmismus zu verfallen, um so Unruhe oder Panik in der Gesellschaft zu verhindern. «Deshalb ist es besser zu schweigen», sagt Stanowaja. Der Kreml kontrolliere nicht nur die Medien - und besitze damit die Deutungshoheit über Ereignisse wie die ukrainischen Angriffe. Putin setze auch weiter auf die «Geduld des russischen Volkes», auf seine Unerschütterlichkeit und seinen Zusammenhalt. «Wie hart auch die ukrainischen Attacken ausfallen, Putin ist überzeugt, dass diese keine Unzufriedenheit mit dem Machtapparat provozieren können.»

Es sei naiv, einen Kurswechsel in Russland zu erwarten, meint Stanowaja. «Putins Plan besteht darin, auf tiefe Veränderungen im Westen und in der Ukraine zu warten, die aus seiner Sicht nur eine Frage der Zeit sind.» Die Angst vor der angekündigten ukrainischen Gegenoffensive trete da in den Hintergrund. Putin könne auch mit einzelnen örtlichen Niederlagen leben, sagt sie.

Der Kreml setze vielmehr darauf, dass die Ukraine am Ende militärisch scheitert, dass es dann zu einer Spaltung der Eliten kommt und die Chancen für eine Kapitulation Kiews wachsen - und auch der Westen seine militärische und politische Unterstützung zurückfährt. Ob dieses Aussitzen von Problem und Nichthandeln Folgen hat? «Offenbar fürchtet Putin keine Folgen», sagt Stanowaja. Eine andere Frage sei, ob er damit richtig liegt. «Wir werden sehen.»

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Strauss 12.06.23 13:04
Der Mostkopf aus Nordkorea
hat sie auch. Soll man sich deshalb von dem fürchten...
Hans-Dieter Volkmann 09.06.23 13:20
Strauss 08.06.23 22:50 nicht einverstanden
Es ist ein Unterschied zwischen Diktatoren mit Atomwaffen und jene ohne Atomwaffen.
Strauss 08.06.23 22:50
Da bin ich nicht einverstanden...
Gorbatschow konnte die auch umstimmen.
Bin laden, Gadaffi, Sadam , und andere mehr, kriegte man auch weg. Und es gab Veränderungen .Leider
hat s zur Zeit unweit von Europa, noch mehr gefährliche Diktatoren. Seit Bolsonaro weg ist in Brasilien,
brennt auch kein Wald mehr absichtlich ab.
Jürgen Franke 08.06.23 07:20
Strauss, mein Schwiegervater konnte sich
zu den Amis durchschlagen und hat überlebt, konnte studieren und war erfolgreicher Geschäftsmann. Ausschlaggebend war auch zu dieser Zeit eine Propaganda, die das Denken der Menschen ersetzte. Ein einzelner Mensch hat nie die Macht ein Volk ins Unglück zu stürzen, sondern nur eine Vielzahl uninformierter oder karrieresüchtiger Menschen.
Strauss 08.06.23 03:40
Sorry,Jürgen
Tut mir leid um Deinen Schwiegervater.
Natürlich hatte Hitler damals als Macher und Weltverbesserer aus den schlechten Zeiten der 20 und 30 er Jahre, anfänglich die tüchtige Jugend voll hinter sich. Auch wenn meine Vorfahren nicht Deutsch sind, kann ich mich noch erinnern wie mein Vater und Opa ( im Grenzland zu Deutschland) anfänglich begeistert waren von diesem Organisationstalent. Aber die Welt sollte gelernt haben, dass man Solche eben wieder früh genug von der Bildfläche weg kriegen muss.
Jürgen Franke 07.06.23 20:10
Die Amis wollten in jedem Fall
nach Bayern, nicht nur um Wernher von Braun mit seinen Experten zu kassieren, sondern auch das Patentamt in München zu besuchen. W.v. Braun gehörte eigentlich wegen seiner Verbrechen im Krieg auch nach Nürnberg auf die Anklagebank. Die Russen wollten unbedingt schnellstens nach Berlin, um auch dort der Universität einen Besuch abzustatten. Es hatte sich auch gelohnt, denn 1957 war ein Sputnik im Weltall. Im Kampf um die Seelower Höhen an der Oder erhöhte sich die Todesrate der Russen dramatisch, da der Wodka für mehr Einsatzbereitschaft sorgen mußte. Mein Schwiegervater wollte dort seinerzeit den Untergang Deutschlands noch verhindern.
Strauss 07.06.23 19:00
Richtig Atombomben wurden dort
noch gar keine gelagert von Hitler. Ganz einfach weil er sie gar nicht hatte. In den unterirdischen Bunkern nahe Wörgl wurden aber seine ganzen Raketenversuche hernach gefunden . Eine flog auch noch nach England. Einige `` Rangobere`` wollten ihr Leben schlussendlich durch Ausplaudern von Geheimnissen, was sich in den Alpen auch noch täte, teuer verkaufen. Der Raketenspezialist W. von Braun wurde von den AMIS gleich mitgenommen nach Amerika.
Jürgen Franke 07.06.23 13:20
Falsch, Strauss, die Amis haben geglaubt,
Hitler würde dort leben. Eine Falschinformation des Geheimdienstes der USA. Atombomben haben dort nie gelagert.
Strauss 07.06.23 13:00
Die sind nicht auf falsche Informationen
hereingefallen. Churchil hat mit den Engländern und Allierten gemeinsam den Schalter umgelegt den Krieg entscheidend zu beenden. Dass in Deutschland noch sehr lange Bombardiert wurde, hing damit zusammen, dass vermutet wurde, dass in den Alpen (Tirol) bereits eine fertige Atombomben von Hitler war. Lange hätte es auch nicht mehr gedauert....
Zum Glück hatten die andere vorher, und gegen Hitler auch zum Glück gar nicht mehr gebraucht.
Jürgen Franke 04.06.23 12:30
Herr Strauss, Sie vergessen immer, dass
diese Personen: Hitler + Putin, nichts sind, ohne die Bevölkerung, die hinter ihnen stehen oder standen und mitmachen.
Dass die Amis auf falsche Informationen reingefallen sind und Hitler in den Alpen vermuteten, sollte bekannt sein.
Jürgen Franke 04.06.23 08:00
Herr Strauss, Ohne die Menschen,
die hinter diesen Personen stehen oder standen, sind diese machtlos.
Thomas Sylten 04.06.23 04:30
Langsam, Herr Strauss:
Es waren exakt die Russen, die Berlin einnahmen und den Endkampf entschieden.
Strauss 03.06.23 23:40
Nur teilweise richtig..
Genauso wie Putin anfänglich gutes für Russland getan hat , machte es auch Hitler für Deutschland. Die Russen waren nicht unschuldig an der Reaktion von Hitler am Beginn der Grenzprobleme zu Deutschland .
England und USA haben den Krieg zu Ende gebracht, nicht Russland. Aber solche Agressoren gehören eben schneller beseitigt....
Jürgen Franke 03.06.23 18:00
Strauss, nach dem Stalingrad Fiasko
hätte der 2. Weltkrieg beendet werden müssen. Die Alliierten hatten keinen Einfluß auf das Attentat. Es wäre auch nie zu einem Bündnis mit den Alliierten gegen Stalin gekommen. Übrigens, die Mehrzahl der deutschen Staatsbürger wußte, was sie von einem Hitler zu erwarten hatten, da alle Bürger, spätestens bei Heirat, sein Buch: "Mein Kampf" als Geschenk bekamen.
Strauss 03.06.23 16:50
Hey Hey , Jürgen mal langsam
Kein Erdenbürger konnte es sich aussuchen in welchem Land er geboren wurde. Die Ganze Welt sowie die Mehrzahl der Deutsch Staatsbürger wussten damals sehr schnell, dass Hitler weg musste. Dass dieses Vorhaben nicht einfach war , zeigte der mutige Graf Stauffenberg aus Bayern. Erst durch Einsatz der Allierten ist dies aber sehr spät gelungen den Krieg zu beenden. Leider muss befürchtet werden, dass sich dies jetzt wiederholen könnte...
Jürgen Franke 03.06.23 14:20
Herr Pires, offensichtlich in Geschichte nicht
aufgepaßt, denn nicht dieser Hitler hat "weitergekämpft", sondern die deutsche Armeen. Also auch Ihre Vorfahren, sofern Sie deutscher Staatsbürger sind.
Dracomir Pires 03.06.23 13:50
Putler weiss schon lange ...
... dass er seinen Angriffskrieg verloren hat. Aber er will wie Hitler weiterkämpfen, um sein aufgedunsenes Gesicht zu wahren.
Strauss 03.06.23 13:30
Natürlich ergibt das noch keinen Kurswechsel
In Anbetracht, dass Putler kein Haar besser ist als Hitler, muss mit längerem Krieg gerechnet werden.