Egon Schiele starb vor 100 Jahren

Foto: epa/Etienne Laurent
Foto: epa/Etienne Laurent

WIEN (dpa) - Unverkennbar Schiele: Grotesk verrenkte Gliedmaßen, nackte Leiber, düstere Blicke. Das Werk und die Karriere des Ausnahmekünstlers Egon Schiele haben aber auch unbekannte Facetten.

Der Maler dichtet. «Die hohen Bäume gingen alle die Strasse entlang, in ihnen zirpten zittrige Vögel. Mit grossen Schritten und roten Böseaugen durchlief ich die nassen Strassen.»

Egon Schiele war 1910 und 1911 in einer extrem produktiven Phase. «Es brodelt in ihm. Er braucht mehrere Ventile, um seine Gefühle loszuwerden», sagt der Schiele-Kenner Stefan Kutzenberger von der Universität Wien. Der Ausnahmekünstler greift nicht nur zu Pinsel und Zeichenstift, sondern es entstehen - bis heute oft unbekannt - rund zwei Dutzend expressionistische Gedichte. Die in Schönschrift auf Papier gebannten Werke wie «Weisser Schwan», «Tannenwald» und «Zwei Chleriker» sind Teil der noch bis 10. März 2019 dauernden Schiele-Jubiläumsschau im Leopold Museum in Wien. Sie erinnert zum 100. Todestag (31. Oktober) an einem Mann mit teils noch unbekannten Facetten.

Als Schiele wenige Tage vor Ende des Ersten Weltkriegs an der Spanischen Grippe starb, war er auf dem besten Weg zum so ersehnten großen Ruhm. Die Zeitungen hätten nach dem Tod des weitbekannten Jugendstil-Malers Gustav Klimt im Februar 1918 Schiele schon als seinen würdigen Nachfolger als Maler-Fürst gehandelt, schildert Kutzenberger. «Er verkaufte gut und hatte Ausstellungen.»

Sein größter Triumph: In einer Ausstellung in der Secession 1918 ist er die Hauptattraktion, stellt 19 Gemälde und 29 Zeichnungen aus - «schwermütige deutsche Städtebilder, von überallher und nirgendwo, todestraurige Männer, sterbensmüde Frauen, verträumte Kinder, die niemals lachen», heißt es über die Motive. Am Ende der Schau habe Schiele fünf Bilder und 19 Blätter verkauft und 16.000 Kronen erlöst, «ein Vermögen, trotz Kriegsinflation», so der Schiele-Biograf Roman Neugebauer.

Der Künstler und Studienabbrecher - er hatte schon als 16-Jähriger die Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie in Wien bestanden, sie aber aus Frust über den Lehrbetrieb wieder verlassen - hatte früh erkannt, wie wichtig als freier Maler die Werbung in eigener Sache war. «Er war ein begnadeter Netzwerker, der seine Kontakte sorgfältig ausgewählt hat», meint der Kurator Kutzenberger nach dem Studium aller 2.000 Briefe und Postkarten von Schieles Hand. Der Künstler mahnte darin die Adressaten, es möge ihm nicht so gehen, wie dem zu Lebzeiten verkannten Van Gogh.

Das Leben des Sohnes eines Eisenbahners, was Schiele das Privileg kostenloser Bahnreisen in der Donaumonarchie einbrachte, hatte verstörende Züge. Oft las er Kinder von der Straße auf und zeichnete sie dann nackt in seinem Atelier. Als sich ein Mädchen aus der Nachbarschaft wegen häuslichen Ärgers zu ihm und seiner Freundin Wally Neuzil flüchtete, trug ihm das den Verdacht des sexuellen Missbrauchs ein. Nach mehrtägiger Untersuchungshaft wurde er 1912 zwar in diesem Punkt freigesprochen. Aber das Kind hatte die erotischen Blätter in seinem Atelier gesehen. Dafür wurde er zu drei Tagen Arrest wegen «Verbreitung unsittlicher Zeichnungen» verurteilt.

Auf dem Kunstmarkt verstörte und begeisterte der Expressionist die Kenner mit seinen Motiven geschundener Leiber, ihren verrenkten Gliedmaßen, den verzweifelten Gesichtern. Immer wieder schuf er fast bizarre Selbstporträts und ging an Grenzen. Die «Liegende nackte Schwangere» (1910) mit gespreizten Beinen und einem maskenhaften Gesicht ist ein gewöhnungsbedürftiger Mal-Akt. Zu seinen bekanntesten Werken zählt die Selbstdarstellung «Sitzender Männerakt» (1910), bei dem aus seinen Brustwarzen, dem Auge, dem Nabel und dem Genital seine Emotion wie glühende Lava hervorzubrechen scheint.

Eine direkte Verbindung zwischen den 3.000 Zeichnungen und etwa 300 Ölbildern, die Schiele im Lauf von nur zehn Jahren geschaffen hat, und den Gedichten gebe es nicht, meint Kutzenberger. «Die Gedichte sind keine Bildbeschreibungen, sondern eigenständige Werke.»

Wenige Jahre vor seinem Tod verließ Schiele seine aus einfachen Verhältnissen stammende Muse Wally zugunsten der Bürgerstochter Edith Harms. In «Tod und Mädchen» (1915) verarbeitete der oft als Erotomane verschrieene Schiele die auch für ihn schmerzhafte Trennung. Das Bild, aktuell in einer Sonderschau im Wiener Belvedere zu sehen, zeigt, wie der Tod eine verführerische Frau zugleich schützend wie abwehrend umarmt.

Eine besondere Tragik begleitete die letzten Tage im Leben Schieles. Am 28. Oktober 1918 starb die im sechsten Monat schwangere Edith an der Spanischen Grippe. Aber auch Schiele steckte sich an. Der Tod ereilte ihn nur drei Tage später. Sein Ruhm verblasste schnell. Erst der Sammler Rudolf Leopold verhalf dem Künstler Jahrzehnte später zu einer zweiten steilen posthumen Karriere, gekrönt von Millionenpreisen auf internationalen Auktionen.

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