Rennen um die Merkel-Nachfolge spannend bis zum Schluss

Wöchentliche Sitzung des deutschen Kabinetts in Berlin. Foto: epa/Henning Schacht / Pool
Wöchentliche Sitzung des deutschen Kabinetts in Berlin. Foto: epa/Henning Schacht / Pool

BERLIN: In Deutschland endet eine Ära: Angela Merkel zieht sich aus der Politik zurück. Ob ihre Partei das Kanzleramt halten kann, ist laut Umfragen fraglich. Aber noch ist nichts entschieden.

Nur eins ist vor der Bundestagswahl am Sonntag sicher: Die Deutschen werden sich an ein neues Gesicht im Kanzleramt gewöhnen müssen. Denn Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die Europas größte Volkswirtschaft seit November 2005 regiert, stellt sich nicht mehr zur Wahl. Das Rennen um ihre Nachfolge aber gilt auch wenige Tage vor Öffnung der Wahllokale als offen.

Gut 60 Millionen Stimmberechtigte sind am Sonntag aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen, dessen Abgeordnete dann ihrerseits den Regierungschef bestimmen. Für Merkels christdemokratisches Lager, also die CDU und deren bayerische Schwesterpartei CSU, sieht es nicht gut aus. In dem Umfragen ist die Union seit Juli von rund 30 Prozent Zustimmung um fast zehn Prozentpunkte abgesackt. Das politische Pendel in Deutschland schlägt derzeit eher nach links aus.

Denn die Sozialdemokraten, langjähriger Juniorpartner Merkels in diversen schwarz-roten Koalitionen und von Wahl zu Wahl schwächer werdend, haben geschafft, was kaum jemand für möglich hielt: An den Christdemokraten vorbeizuziehen und die Führung in den Umfragen zu übernehmen.

Demnach hat SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz - bisher Merkels Finanzminister und Vizekanzler - gute Aussichten, ins Kanzleramt einzuziehen. CDU-Chef Armin Laschet, der als gemeinsamer Kanzlerkandidat von CDU und CSU antritt, hätte das Nachsehen. Die Grünen, die mit Annalena Baerbock zum ersten Mal eine Kanzlerkandidatin aufgestellt haben, kämen nur auf Platz drei.

Allerdings hat die CDU/CSU seit ihren Tiefstständen vor zwei Wochen wieder einige Punkte gutgemacht. Sie liegt derzeit mit rund 22 Prozent drei Punkte hinter der SPD. Die Meinungsforscher halten das Rennen nach wie vor für offen. Sicher scheint nur, dass auch in Deutschland die Ära der großen Volksparteien vorbei ist. Da auch der Wahlsieger kaum mehr als ein Viertel der Stimmen holen dürfte, wird er zwei weitere Parteien als Bündnispartner brauchen, um auf eine Mehrheit der Sitze im Bundestag zu kommen.

Groß sind in jedem Fall die Erwartungen an diese Wahl. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, bezeichnete sie als wegweisend für die kommenden Jahrzehnte. «Wir haben einen riesigen Reformstau», sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Deutschland stehe vor einem wichtigen Wendepunkt in vier zentralen Zukunftsfragen: beim Klimaschutz, bei digitaler Transformation, der wirtschaftlichen Transformation und im globalen Wettbewerb mit China und den USA.

Auch das Ausland hält den Atem an. Die «New York Times» sprach von Deutschlands «wichtigster Wahl in einer Generation.» In den westlichen Hauptstädten sorgt derweil die Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung der Partei Die Linke für Unruhe. Die aus der DDR-Staatspartei SED hervorgegangene Gruppierung plädiert für eine Auflösung der Nato, lehnt Auslandseinsätze der Bundeswehr ab, ist russlandfreundlich und sympathisiert auch mit den linksautoritären Regimen in Havanna, Caracas oder Managua.

Scholz würde am liebsten in einer rot-grünen Koalition mit der Ökopartei regieren, so wie der bisher letzte SPD-Kanzler Gerhard Schröder (1998-2005). Für ein Zweierbündnis dürften die Stimmen aber nicht reichen, so dass die Linke zur Mehrheitsbeschafferin in einem rot-grün-roten Bündnis werden könnte. Schön verkündete deren Spitzenkandidatin Janine Wissler, dass man es nicht an der Nato-Frage scheitern lassen würde. Scholz hat Rot-Grün-Rot nicht ausgeschlossen.

Die Regierungsbildung dürfte sich jedenfalls schwierig gestalten. Ein anderes mögliches Bündnis wäre die sogenannte «Ampel» (Rot-Gelb-Grün) aus SPD, Grünen und Liberalen. Allerdings wollen SPD und Grüne die Einkommenssteuern für Spitzenverdiener erhöhen und die Vermögenssteuer wiedereinführen. Die FDP lehnt Steuererhöhungen kategorisch ab.

Eine weitere Farbenkombination ist «Jamaika» aus CDU/CSU, FDP und Grünen, benannt nach den Nationalfarben der Karibikinsel (Schwarz-Gelb-Grün). Aber auch eine Koalition aus SPD, CDU/CSU und FDP wäre denkbar. Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte glaubt, dass es am Wahlabend «mehrere Kanzlermöglichkeiten» geben werde. «Auch der Zweite kann am Ende Sieger sein, wenn er Mehrheiten gestalten kann», sagte er der «Rhein-Zeitung».

Die SPD profitiert von der Popularität ihres Kanzlerkandidaten. Zwar wollten die Genossen Olaf Scholz 2019 nicht als Parteichef, doch als Spitzenkandidat war der Vizekanzler erste Wahl. Dass er in seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister im Cum-Ex-Skandal um undurchsichtige Aktiengeschäfte keine gute Figur abgab und die ihm als Minister unterstellte Finanzaufsichtsbehörde Bafin den milliardenschweren Zusammenbruch des Finanzdienstleisters Wirecard nicht verhinderte, konnte seinem Renommee kaum schaden. Für viele Wählerinnen und Wähler repräsentiere Scholz «das merkeligste Sicherheitsgefühl», glaubt Korte. Dagegen sieht er bei der Christdemokratie einen «Countdown des Machtverfalls» - nach 16 Jahren nicht unerwartet.

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