Reaktionen auf die Gewalttat von Hanau

Foto: epa/Armando Babani
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Grüne legen Aktionsplan gegen Rechtsextreme vor

HANAU/BERLIN (dpa) - Nach der Bluttat von Hanau überlegen Regierung und Parteien, wie Anschlagspläne besser entdeckt werden können. Dazu gehört auch eine Prüfung der Regeln für den Waffenbesitz.

Nach dem Anschlag in Hanau mit elf Toten dringen die Grünen im Bundestag auf einen schnellen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus in Deutschland. Zu den Sofortmaßnahmen sollen ein Krisenstab, ein Rassismus-Beauftragter und schärfere Waffengesetze gehören. Die FDP forderte, kleinere Verfassungsschutzämter zusammenzulegen. Grünen-Chef Robert Habeck sagte der «Passauer Neuen Presse» (Samstag), die AfD solle als Verdachtsfall durch den Verfassungsschutz beobachtet werden. Zuvor hatte das schon SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil gefordert.

Der Opferbeauftragte der Bundesregierung, Edgar Franke, sagte zu, dass die engsten Angehörigen der Opfer der Gewalttat in einigen Tagen eine Soforthilfe von 30 000 Euro erhalten werden. In mehreren deutschen Städten wandten sich auch am Freitagabend wieder Demonstranten gegen rechte Gewalt und Intoleranz. Weitere Kundgebungen sind am Wochenende geplant.

Ein 43 Jahre alter Deutscher hatte am Mittwochabend im hessischen Hanau neun Menschen mit ausländischen Wurzeln erschossen. Der Sportschütze tötete auch seine 72 Jahre alte Mutter und dann sich selbst. Nach bisherigen Erkenntnissen hatte der Täter eine rassistische Gesinnung und war psychisch krank.

Habeck sagte zur Begründung einer Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz, die Partei schüre Rassismus und leiste Rechtsextremismus Vorschub. Die Relativierungen und Verharmlosungen der Morde von Hanau durch AfD-Politiker seien unerträglich.

Angehörige der Opfer können aus dem Fonds für Härteleistungen innerhalb von zwei Wochen Soforthilfen erhalten, wie Franke dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte. «Für Ehepartner, Kinder und Eltern von Getöteten sind das 30 000 Euro, für Geschwister 15 000 Euro.» Das könne das schreckliche Leid des Verlusts der eigenen Eltern oder Kinder nicht lindern. «Aber zumindest ist es eine Hilfe für die nötigsten Dinge, die in diesem Moment wichtig sind.»

Die Fraktion der Grünen schlägt «Sofortmaßnahmen für eine sichere Gesellschaft» vor. «Der Rechtsextremismus in Deutschland ist völlig enthemmt», schreiben die Fraktionschefs Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter sowie die Innen- und Integrationsexperten in dem Papier, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt.

Darin fordern sie die Bundesregierung auf, einen Krisenstab mit allen relevanten Akteuren aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft einzurichten. Notwendig sind aus Sicht der Grünen zudem ein Beauftragter gegen Rassismus, eine «verlässliche und dauerhafte Demokratieförderung» und finanzielle Unterstützung für den Schutz besonders gefährdeter Einrichtungen wie Moscheen und Synagogen.

Die Grünen wollen, dass Munition nur noch gelagert werden darf, wo auch geschossen werden darf - bisher sei es Sportschützen möglich, sowohl Waffen als auch Munition zu Hause zu lagern. Zudem reichten die bisherigen Zuverlässigkeitsprüfungen nicht aus.

Zuvor hatte bereits Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) eine Überprüfung des Waffenrechts angekündigt. Der «Bild»-Zeitung (Samstag) sagte er: «Wenn die Ermittlungen hier einen Anhaltspunkt ergeben, dass wir früher hätten eingreifen müssen, was den Waffenschein betrifft, dann müssen wir das ändern.» Möglicherweise könne es sinnvoll sein, ein medizinisches Gutachten oder eine ärztliche Bestätigung einzufordern, «dass da alles in Ordnung ist und die Verwirrung oder die Krankheit einer Person nicht zur Gefahr für die Allgemeinheit werden», wenn jemand auffällig geworden sei.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) will prüfen, ob die gerade erst verschärften Regelungen im Waffenrecht auch konsequent umgesetzt werden. Demnach müssen die Behörden immer beim Verfassungsschutz nachfragen, bevor sie eine Waffenerlaubnis erteilen. Es müsse geprüft werden, ob die Behörden, die über die Zuverlässigkeit entscheiden, die nötigen Informationen bekommen.

FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg forderte, die Sicherheitsstrukturen in Deutschland den neuen Bedrohungen anzupassen. «Dazu gehört eine Neuordnung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern», sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. So müssten zum Beispiel kleinere Landesämter für Verfassungsschutz zusammengelegt werden.

Die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) regte an, in den Sicherheitsbehörden Spezialabteilungen und Arbeitsgruppen zur Überwachung von Rechtsextremisten einzurichten. Die Meldestellen für antiislamische und antisemitische Vorfälle müssten ausgebaut werden, verlangte die nordrhein-westfälische Antisemitismusbeauftragte.

In Hannover versammelten sich am Freitagabend rund 3000 Menschen zu einer Kundgebung, darunter waren Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne). Die Veranstaltung stand unter dem Titel «Hannover gegen Rassismus - Hannover für Vielfalt». In Köln kamen mehr als 2000 Teilnehmer zu einer Demonstration gegen rechten Terror auf dem Roncalliplatz zusammen.

In Hanau gedachten Menschen erneut der Opfer des Anschlags. Etwa 200 Teilnehmer versammelten sich nach Veranstalter-Angaben auf dem Marktplatz vor dem Rathaus, fassten sich an den Händen und bildeten eine kreisrunde Menschenkette. Am Samstag will ein Bündnis gegen Hetze und Menschenverachtung in Hanau demonstrieren. Am Nachmittag ist auf dem Marktplatz eine weitere Kundgebung geplant.


Klingbeil: Verfassungsschutz muss gegen AfD aktiv werden

BERLIN (dpa) - Nach der Gewalttat von Hanau pocht SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil weiter auf eine härtere Gangart gegenüber der AfD. Klingbeil warf dem Thüringer AfD-Politiker Björn Höcke vor, mit seinen Reden als «Katalysator für rechten Terror wie in Hanau» zu wirken. «Und deshalb muss der Verfassungsschutz da aktiv werden», sagte Klingbeil der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Auf die Frage, ob der Verfassungsschutz auch mit V-Leute aktiv werden solle, sagte Klingbeil: «Wie das aussehen kann, müssen die Experten entscheiden.»

Auf die Frage, ob sich die AfD bei solche Forderungen als Opfer darstellen könnte, sagte Klingbeil: «Wer als Partei Leute wie Björn Höcke in den eigenen Reihen deckt, duldet und sogar fördert, der ist kein Opfer, der ist Täter.» In der AfD seien Hetzer und Spalter. «Das sind ausgewiesene Faschisten, Rassisten und Nazis.» Der SPD-Politiker sagte: «Wenn wir gemeinsam aufstehen, nicht nur als Parteien, auch als Zivilgesellschaft, dann haben wir eine Chance im Kampf gegen Rassismus. Und letztendlich auch im Kampf gegen die AfD.»

Der Kampf gegen Rechts müsse Priorität haben in Deutschland. «Das erwarte ich von allen politischen Akteuren und den Sicherheitsbehörden», sagte Klingbeil. «Es muss darum gehen, die rechten Parallelwelten aufzudecken und alle Akteure in diesem Umfeld zu entwaffnen.»


Rund 3.000 Menschen bei Kundgebung gegen Rassismus in Hannover

HANNOVER (dpa) - Nach dem mutmaßlich rassistischen Anschlag in Hanau mit elf Toten haben sich am Freitag nach Polizeiangaben rund 3.000 Menschen in Hannover zu einer Kundgebung versammelt. Darunter waren Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne). Die Veranstaltung stand unter dem Titel «Hannover gegen Rassismus - Hannover für Vielfalt» und wurde vom Bündnis «Bunt statt braun» organisiert. «Unser schönes Hannover stellt sich gegen Rassismus und tritt für Vielfalt, Demokratie und Menschlichkeit ein», schrieben die Organisatoren in ihrem Aufruf. In der Nacht zum Donnerstag hatte ein 43-jähriger Deutscher im hessischen Hanau neun Menschen mit ausländischen Wurzeln erschossen. Anschließend soll der Sportschütze seine 72 Jahre alte Mutter und sich selbst getötet haben.


Polizei zeigt bundesweit mehr Präsenz

BERLIN (dpa) - Der Todesschütze von Hanau war wohl psychisch schwer krank. Für Innenminister Seehofer ist trotzdem klar, dass es ein Terroranschlag war. Noch gibt es eine Ungereimtheiten zum Tatverlauf.

Nach dem Anschlag in Hanau hat Bundesinnenminister Horst Seehofer eine stärkere Polizeipräsenz in ganz Deutschland angekündigt. Gesetze sollen aber nicht verschärft werden. Moscheen und andere «sensible Einrichtungen» werden verstärkt überwacht, wie der CSU-Politiker am Freitag in Berlin sagte. Die Bundespolizei werde an Bahnhöfen, Flughäfen und an den Grenzen präsent sein.

Seehofer nannte die Bluttat einen rassistisch motivierten Terroranschlag. Ermittler gaben weitere Details zum mutmaßlichen Täter Tobias R. bekannt. Sie gehen davon aus, dass er psychisch krank war - betonen aber auch seine rassistische Gesinnung.

In der Nacht zum Donnerstag hatte der 43 Jahre alte Deutsche neun Menschen mit ausländischen Wurzeln erschossen. Nach Angaben des Landeskriminalamts hatten drei eine deutsche Staatsangehörigkeit und zwei eine türkische. Je eines der Opfer hatte eine bulgarische, eine rumänische und eine bosnisch-herzegowinische Staatsangehörigkeit, ein weiteres sowohl eine deutsche als auch eine afghanische.

Zudem soll der Sportschütze seine 72 Jahre alte Mutter und sich selbst getötet haben. Wann die Mutter erschossen wurde, ist noch unklar. Tobias R. soll während seiner Fahrt durch Hanau zwei der Opfer in ihren Autos erschossen haben. Das sagten Behördenvertreter in einer Telefonkonferenz Mitgliedern des Innenausschusses des Bundestages, wie Teilnehmer berichteten.

Tobias R. hatte im Internet wirre Gedanken und abstruse Verschwörungstheorien sowie rassistische Ansichten geäußert. Die Tat sei dennoch «eindeutig ein rassistisch motivierter Terroranschlag», bilanzierte Seehofer.

In Hanau gedachten Menschen erneut der Opfer des Anschlags. Etwa 200 Teilnehmer versammelten sich nach Veranstalter-Angaben auf dem Marktplatz vor dem Rathaus, fassten sich an den Händen und bildeten eine kreisrunde Menschenkette. Auf Schildern war zu lesen: «Respekt. Kein Platz für Rassismus.» Oder: «Rassismus ist krass. Liebe ist krasser.»

Am Samstag will ein Bündnis gegen Hetze und Menschenverachtung in hanaus demonstrieren. Am Nachmittag ist auf dem Marktplatz eine weitere Kundgebung geplant.

In Halle an der Saale wird das Friedensgebet am Montag im Zeichen des Anschlags von Hanau stehen. «Kaum sind die Kerzen der Trauer um die beiden Opfer des Anschlages von Halle am 9. Oktober 2019 erloschen, löst eine erneute Gewalttat im ganzen Land Entsetzen und Trauer aus», teilte der Evangelische Kirchenkreis Halle-Saalkreis mit. In Halle hatte ein schwer bewaffneter Rechtsextremist einen Anschlag auf die jüdische Synagoge versucht, scheiterte aber an einer Tür. Er erschoß schließlich außerhalb der Moschee zwei Menschen.

Minister Seehofer nannte die Gefährdungslage durch Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus «in Deutschland sehr hoch». Nach dem Mordfall Lübcke und dem Anschlag von Halle sei dies der «dritte rechtsterroristische Anschlag in wenigen Monaten».

In den vergangenen Tagen seien weitere Anschläge verhindert worden, Ermittler hätten Sprengstoff und Handgranaten in großer Zahl sowie automatische Waffen sichergestellt, sagt der Minister. Mit Nachahmungstätern müsse man nach einer so schrecklichen Tat immer rechnen. Den Rechtsextremismus bezeichnete Seehofer als höchste Sicherheitsbedrohung für Deutschland. Er fordere nun «nicht mehr Personal und auch nicht mehr Paragrafen», sagte er. Die neu geschaffenen Möglichkeiten müssten genutzt werden. Auch Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) verwies auf jüngst beschlossene Gesetze, etwa gegen Hetze im Internet.

Der Präsident des Bundeskriminalamts, Holger Münch, sprach auf Grundlage erster Einschätzungen von einer offensichtlich «schweren psychotischen Krankheit» des Todesschützen. Seehofer betonte jedoch, «der rassistische Hintergrund dieser Tat ist aus meiner Sicht vollkommen unbestritten und kann durch nichts relativiert werden.» AfD-Fraktionschef Alexander Gauland hatte zuvor Vorwürfe einer Mitverantwortung seiner Partei zurückgewiesen und von einem «offensichtlich völlig geistig verwirrten Täter» gesprochen.

Die Ermittler durchleuchten im Zuge der Aufklärung des Anschlages nun Handy- und Computerdaten des Täters. Abgeklärt werde, mit wem im Inland und Ausland er Kontakt gehabt und wo er sich aufgehalten habe, sagte Generalbundesanwalt Peter Frank. Mittlerweile seien 40 Zeugen angehört worden, um den genauen Tathergang abzuklären. Noch habe man keine Hinweise auf Mitwisser oder Unterstützer.

Frank bestätigte, dass die Bundesanwaltschaft schon im vergangenen November Kontakt mit dem Attentäter hatte. Dieser habe Strafanzeige gegen eine unbekannte geheimdienstliche Organisation gestellt und darin zum Ausdruck gebracht, dass es eine übergreifende große Organisation gebe, die vieles beherrsche, «sich in die Gehirne der Menschen einklinkt und dort bestimmte Dinge dann abgreift, um dann das Weltgeschehen zu steuern». Man habe aufgrund dieses Schreibens kein Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Auch der Vater war den Behörden bereits aufgefallen, etwa durch Beschwerdeschreiben. Er sei in der Tatnacht in der Wohnung bei Tobias R. angetroffen worden, sei aber kein Beschuldigter, sondern ein Zeuge, sagte Frank.

Diskutiert wird auch weiter über politische Konsequenzen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Linken im Bundestag, Jan Korte, forderte ein Demokratiefördergesetz, das Finanzmittel für Initiativen gegen Rechts «auf hohem Niveau» verstetigt würden.

Justizministerin Lambrecht kündigte an, zu prüfen, ob die gerade erst verschärften Regelungen im Waffenrecht auch konsequent umgesetzt werden. Demnach müssen die Behörden immer beim Verfassungsschutz nachfragen, bevor sie Waffenerlaubnisse vergeben. Es müsse geprüft werden, ob die Behörden, die über die Zuverlässigkeit entscheiden, die nötigen Informationen bekommen.

SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil und Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner forderten, die AfD vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen. «Der von der AfD gesäte Hass ist der ideologische Wegbereiter des rechten Terrors», sagte Kellner dem Nachrichtenportal «t-online.de». Seehofer sagte, das sei «weniger eine politische Frage, sondern eine des Verfassungsschutzes».


Was wir wissen - und was nicht

BERLIN/HANAU (dpa) - Nach dem mutmaßlich rassistischen Anschlag von Hanau haben die Ermittler noch viel zu klären. Wie genau lief die Tat ab? Hatte Tobias R. Mitwisser oder sogar Unterstützer? Bei anderen Fragen ist man schon weiter.

Ein Deutscher erschießt neun Menschen und wohl auch seine Mutter - der Anschlag von Hanau hat Deutschland erschüttert. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) spricht von einem rassistisch motivierten Terroranschlag. Was bisher über die Tat bekannt ist - und welche Fragen noch offen sind.

WAS WIR WISSEN

TATHERGANG

- An verschiedenen Orten wurden am Mittwochabend und in der Nacht zum Donnerstag im hessischen Hanau zehn Menschen erschossen und mehrere Menschen verletzt.

- Die ersten Schüsse fielen den Ermittlern zufolge gegen 22.00 Uhr in der Hanauer Innenstadt, in einem Lokal am Heumarkt und in einer Bar in unmittelbarer Nähe. Auch in einer Seitenstraße liegen vor einem Imbiss Patronenhülsen - noch ist unklar, in welchem Zusammenhang sie mit der Gewalttat stehen.

- Zeugen sehen nach Schüssen ein dunkles Fahrzeug wegfahren.

- Auch im rund zwei Kilometer entfernten Stadtteil Kesselstadt fielen Schüsse, in einem Café-Kiosk am Kurt-Schumacher-Platz. Dorthin soll der mutmaßliche Täter nach der ersten Gewalttat mit dem Auto gefahren sein. Zwei der Todesopfer soll der Schütze während seiner Fahrt in ihren Autos erschossen haben, wie Bundestagsabgeordnete in einer Besprechung mit Behördenvertretern erfuhren.

- Stunden später entdeckte die Polizei die Leiche des mutmaßlichen Todesschützen in seiner Wohnung, ebenfalls im Stadtteil Kesselstadt. Dort fanden die Ermittler auch die Leiche seiner 72-jährigen Mutter. Neben dem mutmaßliche Täter befand sich eine Waffe, insgesamt wurden zwei Waffen sichergestellt. Der Vater war zu dem Zeitpunkt ebenfalls in der Wohnung. Dieser war Behörden in der Vergangenheit unter anderem aufgefallen, weil er Beschwerden erhoben hatte. Er hat nach Angaben des Generalbundesanwalts aber Zeugenstatus und ist kein Beschuldigter.

- Die Ermittler gehen derzeit davon aus, dass der mutmaßliche Täter erst seine Mutter und dann sich selbst umgebracht hat. Beide wurden nach Angaben des Generalbundesanwalts «offensichtlich erschossen».

- Durch Zeugenaussagen und Aufnahmen von Überwachungskameras kamen die Ermittler dem Mann auf die Spur. Mit Hilfe des identifizierten Autos konnte die Polizei den Wohnort des mutmaßlichen Täters ausfindig machen.

TÄTER

- Bei dem Mann handelt es sich um den 43-jährigen Tobias R. aus Hanau. Nach bisherigen Erkenntnissen soll er allein gehandelt haben.

- Der Mann war seit 2012 im Schützenverein Diana Bergen-Enkheim als Schütze aktiv, wie der Deutsche Schützenverein bestätigte.

- Seit 2013 durfte er Waffen besitzen, die erste wurde nach Angaben der zuständigen Behörde 2014 auf die Waffenbesitzkarte eingetragen. Zuletzt seien insgesamt zwei Waffen dort eingetragen gewesen, 2019 wurde die Erlaubnis für Tobias R. von der Kreisbehörde überprüft - ohne Auffälligkeiten.

- Laut dem Verein selbst war Tobias R. ein «eher ruhiger Typ», der in keiner Weise auffällig geworden sei. Nachbarinnen beschreiben ihn als «ganz unauffälligen jungen Mann». Er habe zudem einen «bisschen verstockten Eindruck gemacht» und sei sehr schüchtern gewesen. Der «Spiegel» zitierte einen früheren Mitarbeiter der Firma, für die Tobias R. gearbeitet hatte, mit den Worten: «Die AfD war ihm nicht radikal genug.» Demnach soll er «unglaublich ehrgeizig» und ein Wettkampftyp gewesen sein.

- Die Ermittler gehen davon aus, dass Tobias R. psychisch krank war. Der Präsident des Bundeskriminalamts, Holger Münch, sprach von einer offensichtlich «schweren psychotischen Krankheit».

- Tobias R. soll zuvor nicht im Visier der Ermittler gewesen sein.

- Über den Werdegang des Täters gibt es keine offiziellen Angaben. Über sich selbst schrieb der Täter auf seiner Homepage, er habe eine Banklehre absolviert und BWL in Bayreuth studiert. Die Universität in Bayreuth bestätigte, dass Tobias R. dort von September 2000 bis März 2007 Student war. Nach Angaben von Bayerns Innenminister Joachim Herrmann hat er zeitweilig in Oberfranken und in Oberbayern gewohnt. «Zuletzt hat er sich wohl 2018 im südbayerischen Raum aufgehalten.» Mitglieder des Innenausschusses im Bundestages erfuhren von Behördenvertretern, er habe bis 2018 in München zur Untermiete gewohnt.

OPFER

- Tot ist die 72 Jahre alte Mutter des mutmaßlichen Täters.

- Die anderen neun Todesopfer sind zwischen 21 und 44 Jahre alt, wie Generalbundesanwalt Peter Frank mitteilte. Sie haben ausländische Wurzeln. Nach Angaben des Landeskriminalamts hatten drei eine deutsche Staatsangehörigkeit und zwei eine türkische. Je eines der Opfer hatte eine bulgarische, eine rumänische und eine bosnisch-herzegowinische Staatsangehörigkeit, ein weiteres sowohl eine deutsche als auch eine afghanische.

- Diese Opfer hätten alle einen Migrationshintergrund gehabt.

- Sechs Menschen seien verletzt worden, eine Person davon schwer.

MOTIV

- Die Ermittler gehen von einem rechtsradikalen und rassistischen Hintergrund der Tat aus. Hinweise auf der Homepage des Täters wiesen darauf hin. Frank sprach von einem «zutiefst rassistischen Weltbild».

- Wenige Tage vor dem Verbrechen hatte der mutmaßliche Täter ein Video mit Verschwörungstheorien bei Youtube veröffentlicht. Darin sagt der Mann etwa, in den USA existierten unterirdische Militäreinrichtungen, in denen Kinder misshandelt und getötet würden.

- Der Mann behauptet in dem Video, Deutschland werde von einem Geheimdienst gesteuert. Außerdem äußert er sich negativ über Migranten aus arabischen Ländern und der Türkei.

- Auch auf der Homepage des mutmaßlichen Täters wurde ein Schreiben mit den Verschwörungstheorien veröffentlicht. Zuletzt bearbeitet wurde es am 22. Januar. Er spricht darin laut Frank davon, dass Angehörige bestimmter Volksgruppen vernichtet werden müssten.

- Im November 2019 hat die Bundesanwaltschaft eine Strafanzeige von Tobias R. erhalten, die sich gegen eine unbekannte Organisation richtet. Teile davon finden sich Frank zufolge in dem manifestartigen Schreiben auf der Homepage wieder. Tobias R. vermutete darin, dass es eine große Organisation gebe, die sich in Gehirne der Menschen einklinke und so das Weltgeschehen steuert. Ermittlungen wurden wegen der Strafanzeige nicht eingeleitet.

WAS WIR NICHT WISSEN

- Unbekannt ist, wie der Tatablauf genau war und wie lange die Tat gedauert hat. Nicht bekannt ist auch, wo sich der 43-Jährige vor der Tat aufgehalten hat. Mit Hilfe von Spuren in der Wohnung wollen Ermittler klären, was sich dort genau abgespielt hat.

- Die Ermittler machen bislang auch keine genauen Angaben dazu, wie viele Menschen an welchem Tatort starben - abgesehen von der Wohnung, in der die beiden Leichen gefunden wurden.

- Nicht beantwortet ist bisher die Frage, wann der erste Notruf bei der Polizei einging.

- Unklar ist, ob der mutmaßliche Täter Mitwisser oder Unterstützer für seinen Anschlag hatte, möglicherweise auch im Ausland. Dazu laufen die Ermittlungen. Erkenntnisse gibt es bisher nicht.

- Auch das Verhältnis zur erschossenen Mutter und zu dem Vater, der überlebt hat, ist ungeklärt. Offen ist zudem, wann genau die Mutter erschossen wurde.


Zuverlässigkeit von Waffenbesitzern wird alle drei Jahre geprüft

BERLIN (dpa) - Nach dem rassistischen Attentat von Hanau fragen sich Politiker, ob die jüngste Verschärfung des Waffenrechts ausreichend war oder nicht. Denn der unter Wahnvorstellungen leidende mutmaßliche Attentäter Tobias R. hatte als Sportschütze eine Erlaubnis, Waffen zu besitzen.

Wenn jemand als Sportschütze oder Jäger scharfe Schusswaffen besitzt, wird jetzt schon alle drei Jahre geprüft, ob er die dafür notwendige «Zuverlässigkeit und persönliche Eignung» besitzt. Neu ist, dass bei dieser Überprüfung jetzt auch automatisch beim Verfassungsschutz nachgefragt wird, ob der Waffenbesitzer als Extremist aufgefallen ist.

Abgesehen von dieser Abfrage beim Verfassungsschutz bleibt es den einzelnen Bundesländern aber weitgehend selbst überlassen, wie sie die Zuverlässigkeit überprüfen. Es ist keineswegs so, dass jeder, der im Besitz von meldepflichtigen Waffen ist, alle drei Jahre persönlich vorsprechen müssen, um etwa unter Beweis zu stellen, dass er nicht inzwischen drogenabhängig oder psychisch erkrankt ist. Im Normalfall wird lediglich bei anderen Behörden - vor allem bei der Polizei - nachgefragt.

Alle fünf Jahre müssen Waffenbesitzer zudem nachweisen, dass sie immer noch ein «Bedürfnis» haben, eine Waffe zu besitzen - also zum Beispiel zur Jagd gehen oder als Sportschützen aktiv sind. Nur eine Erleichterung für Sportschützen gibt es. Sie müssen nach der zweiten Überprüfung - also nach zehn Jahren - nur noch nachweisen, dass sie weiterhin Mitglied in einem Schießsportverein sind.

«Wir müssen die Frage stellen, ob wir das Waffenrecht so ausgestaltet haben, dass eine Verpflichtung besteht einzuschreiten, wenn irgendwo Zweifel an der Zuverlässigkeit eines Menschen, der legal Waffen besitzt, auftauchen», sagt der CDU-Innenpolitiker Armin Schuster. Auch im Fall von Tobias R., der Mitglied in einem Schützenverein war, müsse geklärt werden, wer alles von dem wirren Geisteszustand dieses Mannes gewusst habe.

Hintergrund der Waffenrechtsnovelle, deren Regelungen zum Teil am Donnerstag - einen Tag nach dem Blutbad in Hanau - in Kraft getreten sind, war der Wunsch, Extremisten den Zugang zu Waffen zu erschweren.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sprach sich in einem Interview mit der «Bild»-Zeitung dafür aus, die bestehenden Regelungen im Lichte des Blutbads in Hanau noch einmal unter die Lupe zu nehmen und gegebenenfalls zu ändern. Er sagte: «Wenn die Ermittlungen hier einen Anhaltspunkt ergeben, dass wir früher hätten eingreifen müssen, was den Waffenschein betrifft, dann müssen wir das ändern.» Möglicherweise könne es sinnvoll sein, ein medizinisches Gutachten oder eine ärztliche Bestätigung einzufordern, «dass da alles in Ordnung ist und die Verwirrung oder die Krankheit einer Person nicht zur Gefahr für die Allgemeinheit werden», wenn jemand auffällig geworden sei.

Schon jetzt steht im Waffengesetz, falls Tatsachen bekannt sind, die Bedenken gegen die persönliche Eignung begründen, oder falls begründete Zweifel an vom Antragsteller vorgelegten Bescheinigungen bestehen, habe die zuständige Behörde der betroffenen Person auf deren Kosten «die Vorlage eines amts- oder fachärztlichen oder fachpsychologischen Zeugnisses über die geistige oder körperliche Eignung aufzugeben».


Anschlag erschüttert Selbstbild des Rhein-Main-Gebiets

FRANKFURT/OFFENBACH/HANAU (dpa) - Das Rhein-Main-Gebiet gilt als Musterregion für Integration: Was bedeuten die Anschläge in Hanau für das Zusammenleben in den Städten?

«Ausgerechnet hier» - nach den rassistisch motivierten Morden in Hanau schütteln viele Bewohner des Rhein-Main-Gebiets den Kopf. Gerade Städte wie Frankfurt, Offenbach und Hanau haben einen hohen Ausländeranteil, aber kein Problem damit. Sie galten vielmehr als Beispiel für gelingende Integration. Das «braune» Mittelhessen, der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke oder die Schüsse aus Fremdenhass auf einen Eritreer in Wächtersbach waren gefühlt weit weg, auch wenn diese Orte in Hessen nur wenige Kilometer entfernt sind. Seit der Bluttat vom Mittwochabend ist alles anders.

«19.2.2020 Die Opfer waren keine Fremden! #hanaustehtzusammen». Wer seit dem Anschlag die Homepage der Stadt Hanau aufruft, sieht diese Worte, bildschirmgroß. «Integration ist in Hanau seit vielen Jahren eine Daueraufgabe, der wir uns in vielfältiger Weise stellen», sagt Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD). Die Stadt habe schon lange, bevor es überhaupt den Begriff Integration gab, Menschen erfolgreich in die Gesellschaft eingegliedert. «Das muss unbedingt weitergehen.» In Hanau haben 26 Prozent der Bürger keine deutsche Staatsangehörigkeit und 50 Prozent einen Migrationshintergrund. Die Opfer vom Anschlag in Hanau seien keine Fremden gewesen, sondern Mitbürger, betont Kaminsky. «Es hat Menschen getroffen, die erfolgreich integriert worden sind.»

In Frankfurt sind laut der jüngsten Bevölkerungsstatistik knapp 30 Prozent der inzwischen fast 750.000 Einwohner Ausländer. «Wir sind die Stadt der 180 Nationen. Wir sind die Stadt der 200 Sprachen», sagte Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) bei einer Mahnwache. Trotz internationaler Bevölkerung steige die Kriminalität in der Stadt nicht, im Gegenteil, sie sinke seit Jahren. «Das verteidigen wir heute. Es macht uns wütend, dass wir das überhaupt verteidigen müssen», sagte der sichtlich und hörbar bewegte Politiker auf dem Paulsplatz. «Für alles, was uns gegeneinander treibt, ist in dieser Stadt kein Platz.»

2018 hatte der aus einer türkischen Familie stammende Hanauer Alptug Sözen einem deutschen Obdachlosen das Leben gerettet. Der 17-Jährige ließ sein Leben, als er den Betrunkenen an der Frankfurter S-Bahn-Station Ostendstraße aus dem Gleisbett zog. Eine Gedenktafel an der Bahnstation und eine weitere in Hanau erinnern an den Jugendlichen, den Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) «ein Beispiel für Mut und Zivilcourage» nannte. Solche Geschichten prägten bisher das Selbstbild der Region.

Selbst über Hanau-Kesselstadt, einem der beiden Tatorte, sagten Anwohner am Morgen nach der Bluttat: «Hier ist es friedlich.» In letzter Zeit sei der Ausländeranteil gestiegen, Probleme gebe es aber nicht, erklärte eine Anwohnerin. Eine andere sagt, es sei zwar meist friedlich, doch gebe es durchaus Problembereiche, gerade rund um die Hochhäuser.

«Es gab doch lange Zeit nie ein Problem hier - ob in Frankfurt, in Offenbach oder in Hanau», erklärt ein türkischer Geschäftsmann in Frankfurt. Er hat mehrere Lebensmittelläden im Multikulti-Bahnhofsviertel. «Wir leben hier alle miteinander. Diese Rechten wollen erreichen, dass wir Angst haben. Von wegen nicht integriert - dieses dreckige Spiel muss aufhören.»

Offenbachs Internationalität war 2016 sogar Thema auf der Biennale in Venedig. «Making Heimat» hieß der deutsche Beitrag. Die Ausgangsfrage: Was macht eine «Arrival City» aus, eine Stadt, in der man gut ankommen und heimisch werden kann? Als Beispielstadt wählten die Ausstellungsmacher Offenbach, befragten Alteingesessene und Neuzugezogene, wie es sich lebt in einer Stadt mit hoher Fluktuation und 150 Nationen. Eine Erkenntnis dabei war: «Für den Ausländer ist der andere Ausländer ja auch ein Ausländer.»

Aber Internationalität muss täglich neu erarbeitet werden: Offenbachs Sozialdezernentin Sabine Groß (Grüne) sieht die Städte dauerhaft in der Pflicht, ein friedliches Zusammenleben aktiv zu fördern. «Aus meiner Sicht muss der Ansatz sein, dass wir Formate schaffen, in denen wir möglichst junge Menschen - dann aber auch durchgehend über die verschiedenen Altersstufen - dazu bringen, dass sie Verständnis füreinander entwickeln und bereit sind, Verantwortung füreinander zu übernehmen», sagte sie.

In Hanau wurde in den Kitas flächendeckend eine Sprachförderung etabliert. «In den Schulen leisten wir Leseförderung, Sprachförderung und kulturelle Bildung», sagt Sozial- und Bildungsdezernent Axel Weiss-Thiel (SPD). In der städtischen Volkshochschule werde großer Wert auf Sprachförderung, das Nachholen von Schulabschlüssen und Berufsförderung gelegt. Ab der zweiten März-Hälfte gebe es wieder die internationalen Wochen gegen Rassismus. Flüchtlinge würden verstärkt in Sportvereine integriert. Integration sei also in Hanau ein großes Thema. «Das haben wir schon lange. Und damit haben wir auch keinen besonderen Status im Rhein-Main-Gebiet.»

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