Ratsversammlung macht Weg für Friedensgespräche frei

​Von Arne Bänsch, Qiam Noori und Hesam Hesamuddin

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani (C-L) trifft sich in Kabul mit Dr. Abdullah Abdullah (C-R), dem afghanischen Vorsitzenden des Hohen Rates für nationale Versöhnung, während sie an einer Loya Jirga teilnehmen, ... Foto: epa/Hedayatullah Amid
Der afghanische Präsident Ashraf Ghani (C-L) trifft sich in Kabul mit Dr. Abdullah Abdullah (C-R), dem afghanischen Vorsitzenden des Hohen Rates für nationale Versöhnung, während sie an einer Loya Jirga teilnehmen, ... Foto: epa/Hedayatullah Amid

KABUL: Die Freilassung von 400 als besonders gefährlich eingestuften Taliban-Gefangenen galt als letzte Hürde vor innerafghanischen Friedensgesprächen. Eine große Ratsversammlung stimmte ihr jetzt zu. Endet der jahrzehntelange blutige Konflikt nun bald?

In Afghanistan hat eine große Ratsversammlung der umstrittenen Freilassung inhaftierter Taliban zugestimmt und damit die wichtigste Hürde für den Beginn innerafghanischer Friedensgespräche aus dem Weg geräumt. «Wir stehen an der Schwelle der Friedensverhandlungen», sagte der Vorsitzende des Rats für Versöhnung und Leiter der Versammlung, Abdullah Abdullah, nach der Verlesung der Abschlusserklärung am Sonntag. Die Freilassung von 400 als besonders gefährlich eingestuften Taliban galt als letzte Forderung der islamistischen Gruppe vor Friedensverhandlungen.

Präsident Aschraf Ghani hatte die sogenannte Loja Dschirga vor rund einer Woche einberufen, nachdem sich Taliban und Regierung für das islamische Opferfest auf eine dreitägige Waffenruhe verständigt hatten. «Die afghanische Loja Dschirga hat heute Geschichte geschrieben», sagte Präsident Ghani vor den Delegierten. «Ich werde den Erlass zur Freilassung dieser 400 Gefangenen unterzeichnen», sagte Ghani weiter. «Die Taliban müssen heute zeigen, dass sie einen landesweiten Waffenstillstand nicht scheuen.»

Rund 3400 Vertreter der Gesellschaft - darunter auch etwa 700 Frauen - diskutierten unter strengen Sicherheitsvorkehrungen seit Freitag über die geplanten Friedensgespräche mit den Taliban. In 50 Gremien erarbeiteten die Delegierten einen Beschluss mit 25 Artikeln, der der Deutschen Presse-Agentur vorlag. Die Teilnehmer forderten darin etwa einen bedingungslosen Waffenstillstand zwischen den Konfliktparteien, den Erhalt von Rechten für Frauen und Minderheiten sowie Transparenz in den geplanten Friedensgesprächen.

Die militant-islamistischen Taliban, die die Freilassung bestimmter Anhänger zur Vorbedingung für die seit Ende Februar geplanten Friedensgespräche gemacht hatten, äußerten sich zunächst nicht. Zuletzt hatte die islamistische Gruppe gesagt, eine Woche nach Freilassung der Gefangenen für Friedensgespräche bereit zu sein.

Im Land ging der Konflikt zuletzt brutal weiter. Die Taliban hatten zwar seit ihrem Abkommen mit den USA keine Soldaten der Nato mehr getötet, ihren Kampf gegen die afghanischen Streitkräfte aber noch verstärkt. Mehr als die Hälfte der Bezirke des Landes sind umkämpft. Tausende Soldaten und Zivilisten wurden in dem erbitterten Konflikt seit Ende Februar getötet, viele weitere verwundet. Am Sonntag starben nach Angaben des Innenministeriums zwei Zivilisten in Kabul bei einer Bombenexplosion. Sieben Sicherheitskräfte wurden bei einem Anschlag am Vorabend in der Provinz Ghasni getötet, 16 weitere verwundet.

In der Vergangenheit hatte Ghani betont, die 400 Taliban wegen der von ihnen begangenen schweren Verbrechen aus rechtlichen Gründen nicht begnadigen zu können. Unter ihnen sind 156 zum Tode verurteilte Inhaftierte, wie eine Liste des nationalen Sicherheitsrats zeigt. Auch mutmaßliche Drahtzieher von Anschlägen wie dem auf die Deutsche Botschaft im Jahr 2017 sollen sich unter den Schwerverbrechern befinden, hieß es im April in afghanischen Sicherheitskreisen.

Die Freilassung der Gefangenen ist umstritten. So sollen sich dem nationalen Sicherheitsrat zufolge Regierung und internationale Partner geeinigt haben, 44 Inhaftierte auf einer «schwarzen Liste» als extrem gefährlich einzustufen. Die Kontroverse wurde gleich zu Beginn der Loja Dschirga deutlich, als eine Teilnehmerin während der Eröffnungsrede von Ghani mit einem Transparent protestierte. Sie wurde von einer Mitarbeiterin des Friedensministeriums attackiert und aus dem Saal geworfen. Präsident Ghani verurteilte den Vorfall später und forderte eine juristische Aufarbeitung.

Die Einberufung der Ratsversammlung war nicht unumstritten. Experten gingen davon aus, dass Präsident Ghani diese unbeliebte Entscheidung nicht selbst treffen wollte. Afghanistans Parlamentspräsident Rahman Rahmani bemängelte zudem, dass die Veranstaltung einer Loja Dschirga nicht durch afghanisches Recht gedeckt sei. Parlamentarier fühlten sich hintergangen und bezeichneten die Versammlung gar als illegal. Ghani begehe mit der Freilassung Verfassungsbruch, kritisierten sie.

Die USA hatten mit den Taliban am 29. Februar in Doha (Katar) ein Abkommen unterzeichnet, das einen Abzug der internationalen Truppen vorsieht. Im Gegenzug versicherten die Taliban, ihre Beziehungen mit anderen Terrororganisation zu beenden. Gleichzeitig soll es den Weg für innerafghanische Friedensgespräche bereiten; dafür war ein Gefangenenaustausch als vertrauensbildende Maßnahme vereinbart worden. Bis zu 5000 inhaftierte Taliban sollten im Tausch gegen 1000 von den Rebellen festgehaltene Gefangene der Regierung freikommen.

Die Taliban waren in Afghanistan zwischen 1996 und 2001 an der Macht. Eine von den USA angeführte internationale Militärintervention nach den Al-Kaida-Anschlägen vom 11. September 2001 setzte ihrer Herrschaft ein Ende. Heute sind sie wieder verstärkt aktiv im Land.

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Ingo Kerp 10.08.20 13:37
Die Talibankämpfer haben jetzt unerwartet, weitere 400 gut ausgebildete Kämpfer in ihren Reihen willkommen geheißen. Das Tragische ist, das der hilflose Präsident Ghani tatsächlich glaubt, mit den Taliban einen Friedensvertrag aushandeln zu koennen. Die Taliban werden die Bedingungen diktieren nach dem Motto friß oder stirb. Das ist bei den Taliban woertlich zu nehmen.