ALMATY: Mit dem Einmarsch in die Ukraine wollte Kremlchef Wladimir Putin Russlands Macht im postsowjetischen Raum festigen. Doch in vielen Ländern wenden sich die Menschen als Reaktion auf den Krieg nun erst recht ab - so auch im zentralasiatischen Kasachstan.
An einem regnerischen Frühlingsnachmittag haben sich in Kasachstans größter Stadt Almaty Dutzende Menschen versammelt, um ihre eigene Landessprache zu lernen. «Wollen Sie tanzen?», sagt Lehrer Alexej Skalosubow auf Russisch. Dann fragt er in die Runde: «Und wie sagen wir das nun auf Kasachisch?» Vor ihm sitzen Junge und Alte, Männer und Frauen. Eine ältere Dame hat ihren Enkel mitgebracht. Gleich mehrere Hände schnellen in die Luft. «Sisdin bi bileginis kele me», beantwortet ein Kursteilnehmer die Frage richig.
Das zentralasiatische Kasachstan, das im Norden an Russland und im Südosten an China grenzt, war einst Teil der Sowjetunion. Seit mehr als 30 Jahren nun ist der ölreiche Vielvölkerstaat, in dem neben der kasachischen Bevölkerung noch immer viele ethnische Russen leben, schon unabhängig. Doch der Einfluss Russlands ist weiter gewaltig - politisch, ökonomisch, aber eben auch sprachlich.
Einer offiziellen Statistik zufolge spricht nicht einmal die Hälfte der rund 19 Millionen Einwohner im täglichen Leben Kasachisch, das mittlerweile neben Russisch Amtssprache ist. Fast jeder fünfte Bürger kann die Turksprache überhaupt nicht. Menschen wie Skalosubow wollen das ändern. Und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die ebenso wie Kasachstan eine ehemalige Sowjetrepublik ist, verleiht dem Wunsch nach mehr sprachlicher Autonomie zusätzlichen Auftrieb.
«Russlands Krieg in der Ukraine hat sich sehr auf die Stimmung hier ausgewirkt», sagt der 21-Jährige. «Er hat auch viele Fragen aufgeworfen: Was sind wir für ein Volk? Was haben wir für eine Zukunft? Könnten wir uns auch irgendwann in einer solchen Situation wiederfinden wie die Ukraine?» Der Entschluss zum Kasachisch-Lernen sei also für viele auch eine Art Protest.
Seinen kostenlosen Sprachclub «Batyl Bol», was auf Deutsch so viel bedeutet wie «Sei mutig», hat Skalosubow im April 2022 gegründet. Knapp zwei Monate vorher hatte Kremlchef Wladimir Putin den Einmarsch in die Ukraine angeordnet. Der Andrang bei «Batyl Bol» war gewaltig, erinnert sich Skalosubow, innerhalb von wenigen Tagen registrierten sich mehrere Hundert Menschen.
Mittlerweile gibt es das Angebot in mehreren kasachischen Städten. Zu den Teilnehmern zählen in erster Linie russischsprachige Kasachen. Aber auch Ausländer sind dabei - etwa Russen, die vor einer Einberufung in die Armee geflohen sind und sich nun in ihrer neuen Heimat integrieren wollen.
Vor allem zu Beginn des Krieges sei die Sorge groß gewesen, dass ein so imperialistisch auftretendes Russland theoretisch auch Kasachstan überfallen könnte, sagt der Politologe Dimasch Alschanow im Interview. «Gerade ethnische Kasachen haben Angst.» Mittlerweile allerdings habe die Unruhe bei vielen etwas nachgelassen - weil Moskau, das in der Ukraine etliche Niederlagen einstecken musste, in ihren Augen derzeit ganz offensichtlich für einen weiteren Krieg militärisch nicht gewappnet wäre, sagt der Experte.
Doch auch abseits des Ukraine-Kriegs finden viele Kasachen, dass es längst Zeit ist für eine Stärkung ihrer nationalen Identität - und für eine Abkehr vom starken Einfluss des großen Nachbarn Russland.
Es sei doch absurd, dass so viele Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer quasi jeder Kasache Russisch könne, aber nur ein Teil die eigentliche Landessprache, meint Lehrer Skalosubow. «Die Kasachisch-Sprachigen können in der Regel Russisch, aber die Russisch-Sprachigen können kein Kasachisch.» Diese «sprachliche Kluft» müsse auch deshalb überwunden werden, damit die kasachische Gesellschaft als Einheit auftreten könne, ist er überzeugt.
Die Älteren unter seinen Kursteilnehmern erinnern sich darüber hinaus noch an Diskriminierungserfahrungen zu Sowjetzeiten, die ein Grund für das bis heute anhaltende sprachliche Ungleichgewicht sind. In ihrer Kindheit sei es absolut verpönt gewesen, Kasachisch zu sprechen, sagt eine 63 Jahre alte Frau. Wenn jemand das zum Beispiel im Bus oder im Zug trotzdem getan habe, hätten die Umsitzenden erbost gezischt. Ihre Eltern hätten deshalb nur Russisch gesprochen. Nun muss sie die Sprache, die eigentlich ihre eigene ist, mühsam lernen.
Der Unterricht ist mittlerweile vorbei, Lehrer Skalosubow leitet den gemütlichen Teil des Nachmittags ein. Es gibt Kuchen und Kekse und Limonade. «Ethnisch bin ich Russe, aber politisch gesehen Kasache», ruft Skalosubow noch, bevor er das Buffet eröffnet. Seine Schülerinnen und Schüler klatschen.