Prozess um tödlichen Abbiegeunfall

«Die Ecke ist die absolute Hölle»

Ein Schild mit der Aufschrift «Amtsgericht Tiergarten». Hier beginnt der Prozess gegen Fahrer eines Sattelzuges, der eine Fußgängerin tödlich verletzt haben soll. Foto: Sven Braun/Dpa
Ein Schild mit der Aufschrift «Amtsgericht Tiergarten». Hier beginnt der Prozess gegen Fahrer eines Sattelzuges, der eine Fußgängerin tödlich verletzt haben soll. Foto: Sven Braun/Dpa

BERLIN (dpa) – Der Lastwagen nähert sich langsam dem Unfallschwerpunkt in Berlin. Eine Fußgängerin stirbt unter den Lkw-Rädern. Nun prüft ein Gericht: War es fahrlässige Tötung?

Der Berufskraftfahrer kämpft mit den Tränen, als er die Anklage hört. Zwei Jahre nach einem tödlichen Abbiegeunfall steht der 40-Jährige in Berlin vor Gericht - wegen fahrlässiger Tötung. Er hatte eine 63 Jahre alte Fußgängerin angefahren und überrollt, als er mit seinem Sattelzug im Berliner Stadtteil Kreuzberg rechts abbog.

Den Vorwurf der Anklage weist der Mann zurück. Er sei erst angefahren, als der Bereich für Radfahrer und Fußgänger frei gewesen und die Ampel für Passanten auf Rot gestanden habe, erklärt er am Mittwoch zu Beginn des Prozesses vor dem Amtsgericht Tiergarten.

Laut Anklage soll er am 19. Februar 2018 gegen 9.58 Uhr rechts eingebogen sein, ohne anzuhalten und ohne die Passanten zu beachten, die bei grüner Ampel die Straße überqueren wollten. Erschwerend für seine Sicht sei hinzugekommen, dass die Windschutzscheibe des Lkw verschmutzt gewesen sei und die heruntergeklappte Sonnenblende den Frontspiegel verdeckt habe. Die Fußgängerin verstarb noch am Unfallort.

In trauriger Regelmäßigkeit, 30 bis 40 Mal pro Jahr, sterben Menschen in Deutschland unter den Rädern von Lastwagen. Um tödlichen Lkw-Abbiegeunfällen vorzubeugen, dringen Interessenvertreter von Radfahrern und Logistik gemeinsam auf zügige Veränderungen. Es gehe unter anderem um den Umbau von Kreuzungen, getrennte Grünphasen für Radler und Rechtsabbieger an Ampeln sowie mehr Lastwagen mit Abbiegeassistenten.

Ein Unfallschwerpunkt ist auch das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg. Die Polizeistatistik 2018 habe an dem Verkehrsknotenpunkt 24 Unfälle mit Beteiligung von Radfahrern oder Fußgängern erfasst, heißt es am Rande des Prozesses. Ein Zeuge, der bei dem tödlichen Unfall vor zwei Jahren mit seinem Auto hinter dem Sattelzug fuhr, sagt: «Die Ecke ist die absolute Hölle.» Er bewege sich dort sehr vorsichtig. Und auch er habe die Fußgängerin nicht wahrgenommen. «Sie war definitiv nicht am Fußgängerüberweg.»

Woher kam die 63-Jährige? Lief die Frau bei für sie roter Ampel? Viele Fragen sind offen. Ein Unfallanalytiker hat sich mit dem Fall beschäftigt. Drei mögliche Varianten berechnete er. Bei einer davon hätte der Angeklagte die Frau 0,9 Sekunden vor der Kollision sehen können. «Der Anstoß wäre wahrscheinlich nicht vermeidbar gewesen, aber das Überrollen», so der Experte.

Der Angeklagte folgt dem Prozess mit gesenktem Kopf. Seine Sicht sei damals nicht beeinträchtigt gewesen durch schmutzige Scheiben oder eine Sonnenblende, sagt seine Verteidigerin. Er selbst, ein Mann mit zehnjähriger Berufserfahrung, habe sich nach dem Unfall in psychologische Behandlung begeben müssen. «Das Geschehen belastet ihn bis heute schwer. Er bedauert sehr, was geschehen ist.»

Am 20. März soll ein medizinischer Gutachter gehört werden. Es gehe um die Frage, ob die Fußgängerin schon beim ersten Anstoß oder durch das Überrollen tödlich verletzt wurde, so der Richter. Das sei entscheidend in diesem Fall.

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