Protestwelle und Hunderte Tote

Iraks Regierungschef tritt zurück

Foto: epa/Murtaja Lateef
Foto: epa/Murtaja Lateef

BAGDAD (dpa) - Der Irak leidet noch immer unter den Folgen des Kampfes gegen den IS. Jetzt stürzt das Land in die nächste Krise - und steht ohne handlungsfähigen Regierungschef da. Die Demonstranten feiern.

Nach wochenlangen Protesten gegen die Regierung mit mehreren Hundert Toten und dem Sturz von Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi steht Iraks politische Führung vor einem Scherbenhaufen. Der schiitische Politiker Abdel Mahdi kündigte am Freitag an, beim Parlament seinen Rücktritt einzureichen. Demonstranten in der Hauptstadt Bagdad und anderen Regionen brachen danach in Jubel aus. Doch dem Krisenland droht ohne handlungsfähige Regierung noch mehr Chaos - dabei leidet der Irak ohnehin noch unter dem jahrelangen Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS).

Die Demonstrationen gegen die politische Elite des Landes und die weit verbreitete Korruption waren Anfang Oktober ausgebrochen. Immer wieder gehen in Bagdad und im mehrheitlich von Schiiten bewohnten Süden des Iraks vor allem junge Männer auf die Straße, um ihrem Frust über die politische Elite und die weit verbreitete Korruption Luft zu verschaffen. Es handelt sich um die größte Protestwelle seit dem Sturz von Langzeitherrscher Saddam Hussein im Jahr 2003. Sie geht einher mit ähnlichen Demonstrationen im Libanon oder Algerien und erinnert an die Aufstände in der arabischen Welt im Jahr 2011.

Iraks Demonstranten fordern den Rücktritt der gesamten Regierung, die Auflösung des Parlaments und ein neues politisches System. Das bisherige System war nach der US-Militärinvasion 2003 geschaffen worden. Es verteilt die Macht unter den großen politischen Blöcken, was als Hauptgrund für die grassierende Korruption gilt. Trotz Reformversprechen gelang es Abdel Mahdi nicht, die Lage zu beruhigen.

Bei den Demonstrationen kamen bisher mindestens 380 Menschen ums Leben, wie die vom Parlament gewählte Menschenrechtskommission mitteilte. Demnach wurden mehr als 17 000 Menschen verletzt. Bei den meisten Opfern handelt es sich um Demonstranten. Kritiker warfen den Sicherheitskräften - darunter einer schnellen Eingreiftruppe der Armee - immer wieder den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt vor.

Am Donnerstag erlebte das Land einen der blutigsten Tage seit Beginn der Protestwelle. Allein in der südirakischen Stadt Al-Nasirija, einem Zentrum der Proteste, seien 32 Menschen getötet worden, als Sicherheitskräfte auf Demonstranten schossen, berichteten Augenzeugen. In der Stadt Nadschaf hatte eine Menschenmenge am Abend zuvor Irans Konsulat in Brand gesetzt. Die Behörden verhängten eine Ausgangssperre, um die Lage zu beruhigen. Dennoch kamen am Freitag wieder drei Menschen ums Leben, wie Augenzeugen berichteten.

Abdel Mahdi erklärte, mit seinem Rücktrittsgesuch wolle er verhindern, dass der Irak in noch mehr Gewalt und Chaos abgleite. Der Druck auf ihn war in den vergangenen Tagen immer weiter gewachsen. Am Donnerstag forderte der einflussreiche schiitische Geistliche Muktada al-Sadr den Rücktritt der Regierung. Al-Sadrs Block hatte bei der Parlamentswahl im Mai 2018 die meisten Sitze gewonnen und Abdel Mahdi vor mehr als einem Jahr mitgewählt. Am Freitag empfahl Iraks höchster schiitischer Geistlicher, Großajatollah Ali al-Sistani, dem Parlament in seiner Predigt, die Wahl der Regierung zu überdenken.

Nach Abdel Mahdis Rücktrittsankündigung feierten und tanzten die Menschen auf dem Tahrir-Platz in der Hauptstadt Bagdad. Dazu riefen sie: «Es lebe die Revolution.» Der Rücktritt Abdel Mahdis sei nur ein erster Schritt, sagte einer der Demonstranten. «Alle müssen weg.»

Sollte das Parlament Abdel Mahdis Rücktritt annehmen, steht das Land vor einer schwierigen Regierungsbildung. Der schiitische Politiker war erst vor etwas mehr als einem Jahr nach monatelangem Ringen der stärksten Blöcke ins Amt gewählt worden. Der 77-Jährige galt als Kompromisskandidat, den sowohl das Nachbarland Iran als auch die USA akzeptieren konnten. Beide Mächte besitzen im Irak starken Einfluss.

Das Krisenland hat sich noch nicht vom jahrelangen Kampf gegen die IS-Terrormiliz erholt. Die Dschihadisten hatten im Sommer 2014 große Gebiete im Norden und Westen des Iraks überrannt und in der nordirakischen Stadt Mossul auch ihr «Kalifat» ausgerufen. Militärisch ist der IS mittlerweile besiegt, doch Zellen der Extremisten sind weiter aktiv und verüben regelmäßig Angriffe.

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