Proteste und Polizeigewalt

Indien ringt um seine Identität

Foto: epa/ Str
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NEU DELHI (dpa) - Indien ist laut Verfassung ein säkularer Staat. Doch nun hat die Regierung ausgerechnet beim ohnehin kontroversen Thema Einbürgerung die religiöse Karte gezogen. Zehntausende Bürger kämpfen dagegen an. Bleibt die Regierung hart?

Die Wut in Indien wächst - und auch die Angst. Die Angst, dass die größte Demokratie der Welt mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern zu einem autokratischen Regime verkommt, in dem seine 200 Millionen Muslime Bürger zweiter Klasse werden. Zehntausende gehen jeden Tag im ganzen Land auf die Straße. Die Regierung will sie zum Schweigen bringen: In mehreren Regionen verbot sie größere Menschenansammlungen und ließ Tausende Demonstranten in Bussen abtransportieren, wenn sie trotzdem kamen. Immer wieder schlugen Polizisten mit Stöcken auf Demonstranten ein und beschossen sie mit Tränengas. Mehrere Menschen starben. Außerdem hat die Regierung in einigen Regionen Internet und Handyempfang abstellen lassen, auch in Teilen der Hauptstadt Neu Delhi. Teils gab es Ausgangssperren, Schulen wurden zeitweise geschlossen.

Der Grund der Proteste: Ein neues Gesetz bestimmt erstmals indirekt die Religion als Kriterium für den Erwerb der Staatsbürgerschaft. Danach können sich künftig viele illegal eingereiste Migranten aus den mehrheitlich muslimischen Nachbarländern Afghanistan, Bangladesch und Pakistan einfacher einbürgern lassen - wenn sie nicht Muslime sind. Hindus, Buddhisten, Christen, Sikhs, Jaina und Parsen ohne Papiere werden als religiös Verfolgte eingestuft, Muslime können stattdessen für ihre illegale Einreise bestraft werden.

Das Gesetz macht vielen illegal eingereisten Muslimen Angst. Viele haben keine Papiere und ihnen droht so die Staatenlosigkeit, wie der muslimische Journalist und Chefredakteur der indischen Zeitung «National Herald» Zafar Agha sagt. Denn die hindu-nationalistische Regierung hat konkrete Pläne, ab 2024 ein Bürgerregister einzuführen, für das alle Einwohner beweisen müssen, dass sie tatsächlich Inder sind. Erbringen sie den Beweis nicht, haben beispielsweise viele Hindus die Möglichkeit, mit dem neuen Einwanderungsgesetz ihre alte Staatsbürgerschaft leicht zurückzuerhalten - Muslime aber nicht. In einem Bundesstaat an der Grenze zu Bangladesch gibt es bereits jetzt ein solches Bürgerregister und dort werden zurzeit Lager gebaut, wo Staatenlose untergebracht werden sollen.

Für den Politologen Yogendra Yadav ist klar: «Das Gesetz macht Muslime zu Bürgern zweiter Klasse.» Muslime sind Indiens größte religiöse Minderheit, sie machen 14 Prozent der Bevölkerung aus, Hindus hingegen 80 Prozent. Viele Muslime fühlten sich wegen der hindunationalistischen Politik ihrer Regierung zunehmend unwohl. Nun fürchteten sie, immer mehr marginalisiert zu werden.

Doch Premierminister Narendra Modi beschwichtigt. Das Gesetz betreffe indische Bürger kaum, helfe aber religiös Verfolgten. Das nehmen ihm die Demonstranten nicht ab. Denn in Indien leben auch etliche Muslime, die in ihren Heimatländern religiös verfolgt wurden - etwa Rohingyas aus Myanmar - und die erwähnt das Gesetz nicht. Auch bezeichne Indiens Innenminister und Chef von Modis Partei, Amit Shah, illegale Migranten aus Bangladesch mehrmals als «Termiten».

Doch nicht nur Muslime protestieren. «Das Gesetz verändert die Identität von Indien, wie wir es kennen», sagt Agha. Viele Menschen wie Studenten und Oppositionspolitiker fürchten, dass ihr Land abrückt von säkularen Werten und den Idealen von Gründervater Mahatma Gandhis. Ähnlich sieht es auch das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen. Das Gesetz sei «grundlegend diskriminierend». Und die Demonstrationen wachsen - auch weil die Regierung alles daran setzt, hart gegen sie vorzugehen. Sie demonstrieren gegen die teils massive Polizeigewalt und finden, dass sie in einer Demokratie das Recht haben, friedlich zu demonstrieren.

Begonnen hatten die Massenproteste aber an der Grenze zu Bangladesch. Dort haben die Menschen Angst vor einem Zustrom von Migranten. Bereits jetzt leben dort viele Menschen aus dem Nachbarland.

Für Modi sind es die größten Proteste seit seinem Amtsantritt vor fünf Jahren. Doch viele Inder, die ihm im Frühjahr mit einer überwältigenden Mehrheit wiedergewählt hatten, stehen auch zu ihm - viele streiten sich auf den sozialen Netzwerken mit den Befürworten.

Doch die Demonstranten machen weiter. Eine junge Frau sagte kürzlich bei einer Demo in Neu Delhi: «Mit diesem Gesetz lenkt die Regierung nur von den wirklichen Problemen unseres Landes ab - zum Beispiel der hohen Arbeitslosigkeit.» Sie wolle weitermachen, wie Zehntausende andere. Auf einem Plakat in der Menge hieß es: «Hindus, Muslime, Sikhs, Christen - wir sind alle Brüder».

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