Pontevedra: «Stadt ohne Autos» ein Vorbild für Deutschland?

Die Bildkombo zeigt den Platz Curros Enrique im Jahr 1999 (l) und den Platz Curros Enrique im Jahr 2019. Foto: Rathaus Pontevedra/Dpa
Die Bildkombo zeigt den Platz Curros Enrique im Jahr 1999 (l) und den Platz Curros Enrique im Jahr 2019. Foto: Rathaus Pontevedra/Dpa

PONTEVEDRA (dpa) - Seit Montag dürfen in Stuttgart Diesel mit Euro-Norm-4 oder schlechter nicht mehr in der Innenstadt fahren. Über Fahrverbote wird auch im Autoland Deutschland immer häufiger diskutiert. Eine Stadt an der spanischen Atlantikküste ist da weiter.

Berlins Verkehrssenatorin Regine Günther träumt von einer Hauptstadt ohne Autos. «Wir möchten, dass die Menschen ihr Auto abschaffen», sagte die Klimaexpertin jüngst. Eine Utopie? Ein Blick nach Spanien zeigt, dass eine solche ebenso ehrgeizige wie umstrittene Vision nicht unbedingt Wunschvorstellung bleiben muss. In der Provinzhauptstadt Pontevedra im Nordwesten des Landes kommen die Menschen seit 20 Jahren fast immer ohne Wagen aus. 1999 wurde der Autoverkehr dort weitgehend aus der Innenstadt verbannt.

Bewohner sprechen von einem «Paradies». Besucher wie der Journalist Stephen Burgen vom britischen «Guardian» stellen verwundert fest, dass die Menschen in der galicischen Stadt auf den Straßen «nicht schreien» (müssen), dass ungewöhnlich viel miteinander geredet und gelacht wird und dass man «das Zwitschern der Vögel inmitten der Kamelien» und «das Klirren der Löffel in den Kaffeetassen» hört. «Bei uns ist der Fußgänger König», meint Bürgermeister Miguel Anxo Fernández Lores im Interview der Deutschen Presse-Agentur stolz.

Motorenlärm ist im modernen städtischen Leben kaum wegzudenken. In immer mehr deutschen Städten drohen zwar Fahrverbote, in einigen wurde sie schon durchgesetzt. Seit Montag dürfen in Stuttgart Diesel mit Euro-Norm-4 oder schlechter nicht mehr in der Innenstadt fahren. Aber wäre im «Autoland» eine so radikale Verbannung wie in Pontevedra überhaupt mach- oder durchsetzbar? Bürgermeister Fernández Lores ist davon überzeugt, dass viele Teile seines Konzepts auch von den großen Metropolen kopiert werden können.

Doch wie funktioniert es in Pontevedra? Im Zentrum der Stadt am «portugiesischen Jakobsweg» und dem Atlantischen Ozean sieht man heute zwar hier und da noch Autos, aber nur wenige. Es sind Lieferwagen sowie Fahrzeuge von Anwohnern und des öffentlichen Nahverkehrs. Für sie alle gilt seit dem Jahr 2010 Tempo 30. Es gibt kaum Ampeln und Verkehrszeichen und nur selten klar definierte Fahrbahnen und Radwege, denn der Fußgänger hat in der gesamten Altstadt mit den vielen religiösen und anderen Gebäuden aus den Epochen der Gotik, der Renaissance und des Barocks immer Vorrang.

Das System funktioniert unter anderem auch deshalb, weil an den Zufahrtsstraßen zum Zentrum rund 15 000 Parkplätze geschaffen wurden, von denen über die Hälfte gratis sind. In der Innenstadt gibt es nochmal eintausend Parkplätze, die man kostenlos, aber nur für höchstens 15 Minuten benutzen darf, wenn man als Anwohner oder Lieferdienst größere oder schwerere Dinge verladen muss.

Wo es früher in der Innenstadt Parkplätze gab, entstanden im Laufe der Jahre viele Sport- und Spielplätze sowie Grüngebiete. Hinweistafeln, die an U-Bahn-Streckenpläne erinnern und «Metrominuto» heißen, zeigen, wie weit es zu den 30 wichtigsten Punkten der Stadt ist und wie lange man bis dahin zu Fuß braucht.

«Ich habe in Madrid und anderen Städten gewohnt. Das hier ist für mich wie das Paradies», wurde eine Bewohnerin namens Raquel García vom «Guardian» zitiert. Auch bei Regen (und in Galicien fällt viel Wasser vom Himmel) unternehme sie alles zu Fuß. Die Zufriedenheit wird von Zahlen untermauert: Die CO2-Emissionen gingen nach Angaben der Stadt zwischen 1999 und 2014 um 67 Prozent zurück. Seit 2007 gibt es in den verkehrsberuhigten Stadtbereichen keinen einzigen Verkehrstoten mehr. Zwischen 1999 und 2006 waren es 30.

Mehr Zahlen: Während die Berliner 2018 nach Berechnungen des Verkehrsdatenanbieters Inrix im Schnitt 154 Stunden durch dichten Verkehr und Stau einbüßten, werden in Pontevedra über 90 Prozent aller Einkäufe zu Fuß getätigt. Rund 80 Prozent aller Schüler gehen zu Fuß zum Unterricht. Mehr als zwei Drittel (71 Prozent) aller Fortbewegungen geschehen zu Fuß oder mit dem Rad. Die Zahl der Fahrzeuge ging in der Innenstadt von 80.000 auf 7.000 zurück.

Leicht war der Weg keinesfalls. «Die PP», das ist die konservative Volkspartei, «ist gegen unsere Pläne sogar vor Gericht gezogen», erzählt der Bürgermeister. «Da es keine Präzedenzfälle gab, hatten zudem viele Menschen aufgrund der Unkenntnis Angst vor den Neuerungen.»

Jene Ladenbesitzer, die anfangs noch in relativ großer Zahl protestiert und geschimpft und eine Senkung ihrer Einnahmen befürchtet hatten, reiben sich heute die Hände. Dazu gehört Miguel Lago. Er sei sehr skeptisch gewesen, räumte Lago gegenüber der Zeitung «El País» ein. Inzwischen wisse er aber: «Wichtig ist vor allem, wie viele Menschen zu Fuß an deinem Laden vorbeigehen.» In kaum einer anderen Stadt Spaniens entstanden am Stadtrand und in den Vororten so wenige großflächige Einkaufszentren wie hier.

Die Menschen in Pontevedra seien glücklicher und gesünder als vor 20 Jahren, versichert Bürgermeister Fernández Lores. «Es ist offensichtlich, dass man in einer Umwelt mit weniger Stress, Verschmutzung, Aggressivität und Verkehrsgewalt mehr vom Leben hat und gesünder lebt.» Der 64 Jahre alte Arzt, der bei seinem Amtsantritt vor zwei Jahrzehnten sofort gegen den damaligen weltweiten Strom schwamm und Verkehrsreformen in die Wege leitete, muss in der Tat vieles richtig gemacht haben. Denn der Politiker der links-grünen Partei Nationalistischer Galicischer Block (BNG) wird seitdem in der einst erzkonservativen Stadt immer wieder zum Rathaus-Chef gewählt.

Viele Kollegen von Fernández Lores werden sagen: «In einer Stadt mit 83.000 Einwohnern ist das alles kein Kunststück.» Und vielleicht behaupten, dass das Modell nicht auf größere Städte übertragbar sei. Aber nicht alle denken so. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo war beim Forum Smart City in der französischen Hauptstadt von den Ausführungen des Arztes im vorigen November so überwältigt, dass sie den Spanier als «Bahnbrecher» bezeichnete.

Hidalgo, die ihre Stadt bis 2030 von Autos mit Verbrennungsmotoren komplett befreien möchte, stellte auch einen Besuch in Pontevedra in Aussicht und sagte, sie wolle von Fernández Lores und der Stadt so viel wie möglich lernen. Nicht nur Jakobspilger, sondern immer mehr Stadtplaner geben sich inzwischen im mehrfach ausgezeichneten Pontevedra die Klinke in die Hand. «Unsere Philosophie sollte unverändert auch von größeren Städten, mit Einsatz von U-Bahnen und Bussen übernommen werden», heißt es im Rathaus von Pontevedra.

Fernández Lores ruht sich derweil auf den Lorbeeren nicht aus. Es gebe immer neue Herausforderungen und Ziele. «Wir sind gerade dabei, das Modell in die gesamte Provinz Pontevedra, die 900.000 Einwohner hat, zu exportieren», erzählte er der dpa. Außerdem würden in seiner Stadt ständig neue Straßen von Autos befreit. «Der Prozess der Stadtverbesserung geht nie zu Ende.»

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