Nationales Recht oder EU-Recht - was geht vor?

​Polen und EU streiten  

Polens Premierminister Mateusz Morawiecki. Foto: epa/Mateusz Marek
Polens Premierminister Mateusz Morawiecki. Foto: epa/Mateusz Marek

WARSCHAU/BRÜSSEL: Der Konflikt zwischen Brüssel und Warschau um die Reformen der polnischen Justiz geht in eine neue Runde. Polen soll den Vorrang von EU-Recht gegenüber nationalem Recht anerkennen, fordert der EU-Justizkommissar. Regierungschef Morawiecki sieht das anders.

Die EU-Kommission drängt Polen, den Vorrang von EU-Recht vor nationalen Vorschriften anzuerkennen - und trifft damit auf heftigen Widerspruch in Warschau. «Die polnische Verfassung ist dem EU-Recht übergeordnet», sagte Regierungschef Mateusz Morawiecki am Donnerstag. Damit stellte er sich offen gegen Brüssel.

EU-Justizkommissar Didier Reynders hatte zuvor an Polens Europaminister Konrad Szymanski geschrieben. Konkret forderte Reynders, die Regierung solle ihre Vorlage beim polnischen Verfassungsgericht vom 29. März zurückziehen. Das Gericht soll klären, welches Recht vorgeht. Morawiecki erteilte Reynders' Anliegen eine Absage: Dies werde er nicht tun, sagte der Regierungschef.

Erst am Mittwoch hatte die Kommission ein Verfahren gegen Deutschland eingeleitet, weil sich das Bundesverfassungsgericht mit einem Urteil zur Europäischen Zentralbank 2020 über einen Spruch des Europäischen Gerichtshofs hinweggesetzt hatte. Der von Reynders beschriebene Sachverhalt in Polen liegt ähnlich.

Morawiecki habe das polnische Verfassungsgericht gebeten, ein Urteil des EuGH vom 2. März 2021 zu überprüfen, heißt es in dem Schreiben des EU-Justizkommissars, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. In dem Urteil hatten die obersten EU-Richter festgestellt, dass EU-Recht Mitgliedsstaaten zwingen kann, einzelne Vorschriften im nationalen Recht außer Acht zu lassen, selbst wenn es sich um Verfassungsrecht handelt.

Die Vorlage Morawieckis an das polnische Verfassungsgericht «scheint fundamentale Prinzipien des EU-Rechts in Frage zu stellen, insbesondere das Prinzip, dass EU-Recht Vorrang vor nationalem Recht hat und dass Urteile des Europäischen Gerichtshofs für alle nationalen Gerichte und andere staatliche Stellen in Mitgliedsstaaten bindend sind», schrieb Reynders. Die Vorlage verstoße auch gegen das Prinzip der treuen Zusammenarbeit in der EU. Reynders forderte eine Antwort Szymanskis binnen eines Monats. Man behalte sich vor, nötigenfalls die in den EU-Verträgen vorgesehenen Schritte einzuleiten, heißt es weiter.

Die EU-Kommission liegt seit Jahren mit der national-konservativen Regierung in Polen im Streit wegen des dort eingeleiteten Umbaus der Justiz. Unter anderem hat die Brüsseler Behörde Zweifel an der Unabhängigkeit des polnischen Verfassungsgerichts.

Polens Justizminister Zbiegniew Ziobro sagte, der Brief von Reynders zeige den antidemokratischen und nicht-rechtsstaatlichen Charakter der EU. «Dies ist ein Beweis für die Unverschämtheit, die Aggression und den kolonialen Blick auf Polen», sagte Ziobro. Kein anderes Land und keine Organisation könnten Polens Regierungschef verbieten, eine Vorlage beim polnischen Verfassunggericht einzureichen, damit eine strittige Frage geklärt werde.

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Norbert Kurt Leupi 12.06.21 00:00
In die EU... Herr Jürgen Franke
gezwungen ? Ja, werter Jürgen , gezwungen nicht , aber zähl` mir die Länder auf , die per Volksabstimmung zur EU wollten ? Und sollten sich die politischen Verhältnisse in der Zukunft ändern , z.B wenn in einigen Ländern die erzkonservativen Rechtspopulisten an die Macht kommen , wollen wir dann sehen ,wieviele "Austritte " aus der EU vollzogen werden !
Jürgen Franke 11.06.21 22:10
Kein Land wurde gezwungen der EU
beizutreten. Mitgliedsstaaten, die lediglich die Vorteile genießen wollen, sollten die EU verlassen
Michael Herrmann 11.06.21 21:30
Ich wünsche
den Polen viel Kraft. Die werden sie brauchen. Ansonsten schliesse ich mich dem Kommentar von K.K. vollumfänglich an.