Gift-Gipfel: Stroll «extrem wütend»

Der kanadische Formel-1-Pilot Lance Stroll (L) von Williams chattet mit seinem Vater Lawrence Stroll (R), einem kanadischen Milliardär. Foto: epa/Srdjan Suki
Der kanadische Formel-1-Pilot Lance Stroll (L) von Williams chattet mit seinem Vater Lawrence Stroll (R), einem kanadischen Milliardär. Foto: epa/Srdjan Suki

SILVERSTONE: Das Formel-1-Jubiläumswochenende in Silverstone ist zum Streitfest ausgeartet. Mega-Zoff gibt es in der Plagiatsaffäre um Racing Point. Selbst der sonst öffentlichkeitsscheue Mehrheitseigner meldet sich vehement zu Wort. Ärger gibt es auch um den neuen Grundlagenvertrag.

Die ohnehin schon außer Kontrolle geratene Formel-1-Familienfeier sprengte der öffentlich sonst zurückhaltende Racing-Point-Mehrheitseigner Lawrence Stroll vollends. Nach den Plagiatsvorwürfen gegen seinen Rennstall wütete der Kanadier in Silverstone gegen die Rivalen. Das zur Erinnerung an 70 Jahre Grand-Prix-Geschichte geplante Jubiläumswochenende in England artete völlig zum Streitfest aus und legte die hässliche Seite des milliardenschweren Geschäfts bloß.

«Ich habe nie bei irgendwas in meinem Leben betrogen. Diese Anschuldigungen sind absolut inakzeptabel und nicht wahr. Meine Integrität - und die meines Teams - stehen außer Frage», schrieb der kanadische Geschäftsmann am Sonntag vor dem zweiten Grand Prix in Silverstone in einer seiner seltenen öffentlichen Stellungnahmen. Von Harmonie war aber schon zuvor lange keine Rede mehr. Die Plagiatsaffäre um Racing Point löste eine Protestwelle aus, in den Verhandlungen um den künftigen Grundlagenvertrag wähnt sich Branchenprimus Mercedes über den Tisch gezogen.

«Das ist wie bei einem Eisberg, im Moment handelt es sich nur um die Spitze des Eisbergs», befand Sebastian Vettels Ferrari-Teamchef Mattia Binotto. Eigentlich sprach er nur von der Racing-Point-Affäre - man konnte die Aussage des Schweizers aber auch auf den entbrannten Streit an vielen Fronten in der Formel 1 beziehen.

Zunächst ist da der Kopie-Krach. Das in dieser Saison so starke Team Racing Point um Vertretungsfahrer Nico Hülkenberg wird von Mercedes mit Motoren und weiteren Komponenten beliefert. Renault legte nach den Grand Prix in der Steiermark, Ungarn und Großbritannien Protest gegen die Bremsbelüftungen der Racing-Point-Autos ein, weil sie angeblich illegal vom Mercedes der Saison 2019 kopiert wurden.

Racing Point betont, vom alten Mercedes nur inspiriert worden zu sein. «Sie haben behauptet, den Wagen nur anhand von Fotos kopiert zu haben. Wenn man aber das FIA-Dokument liest, wird klar, dass das kompletter Mist ist», schimpfte McLaren-Motorsportchef Zak Brown und vermutete noch viel umfangreichere Nachahmungen. Stroll bezeichnete sich kurz vor Rennstart wegen der Anschuldigungen als «extrem wütend» und «entsetzt» über das Verhalten bestimmter Konkurrenten.

Die Sportkommissare des Motorsport-Weltverbandes FIA erkannten bei den hinteren Bremsschächten einen Regelbruch. Der Designprozess dieser Bauteile sei nicht rechtmäßig, weil bestimmte Komponenten von den Teams selbst ohne Hilfe eines Konkurrenten konstruiert werden müssen. Racing Point räumte ein, Bremsbelüftungen von 2019 bei Mercedes eingekauft zu haben. Als diese Komponenten 2020 aber nach einer Regeländerung auf eine Liste aufgenommen worden, die vorschreibt, welche Bauteile Eigenleistungen der Teams sein müssen, habe man sie auch nicht eingesetzt. Das Wissen und die Informationen flossen gleichwohl in die Komponenten ein.

Racing Point darf trotz des Schiedsspruchs die Bremsschächte weiter einsetzen, wurde aber mit dem Abzug von 15 WM-Punkten und 400.000 Euro Geldbuße bestraft. «Es geht um das ganze Konzept des Kopierens. Dürfen wir oder dürfen wir nicht ein ganzes Konzept kopieren», stellte Binotto eine maßgebliche Frage in den Raum.

Nein, das sollen die Formel-1-Teams nach dem Willen der FIA nicht. Auch wenn der aktuelle Wagen von Racing Point wegen seiner Ähnlichkeit - und Lackierung - im Fahrerlager schon mal spitz als «rosaroter Mercedes» bezeichnet wird. «Wir wollen nächstes Jahr nicht acht oder zehn Mercedes im Starterfeld haben», befand der Technikchef des Motorsport-Weltverbandes, Nikolas Tombazis. Das Abschauen und Kopieren sei zwar schon lange Teil der Formel 1, «wir glauben aber, dass es Racing Point zu weit getrieben hat.» Daher wollen die Regelhüter als Reaktion die Sportregularien 2021 anpassen, damit künftig Kopien nicht zur Norm werden.

«Wir akzeptieren, dass man sich in der Formel 1 etwas voneinander abschaut, aber nicht dass das ganze Auto kopiert wird», rügte Renault-Teamchef Cyril Abiteboul.

McLaren-Motorsportchef Brown stieß es übel auf, dass Racing Point die Bremsbelüftungen, deren Aneignung als illegal deklariert wurde, weiter nutzen darf. «Das ergibt für mich keinen Sinn, das ist auch nicht fair in diesem Sport», kommentierte er. Das viel kritisierte Team dürfe damit einen Wettbewerbsvorteil nutzen, der auf nicht rechtmäßige Weise erworben worden sei.

Racing-Point-Teamchef Otmar Szafnauer ätzte zurück: «Er hat keine Ahnung, wovon er spricht, null. Ich bin überrascht, wie wenig er über die Regeln der Formel 1 weiß.» Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff wähnte eine «kleine Revolution» der Rivalen, «weil sie nicht die Leistung bringen wie Racing Point.»

Ferrari, McLaren, Renault und Williams kündigten am Wochenende an, das Urteil eventuell anzufechten. Racing Point prüfte wiederum, gegen die Höhe des Strafmaßes vorzugehen. «Sie ziehen unseren Namen durch den Schmutz und ich werde nicht einfach danebenstehen und es akzeptieren. Ich beabsichtige, alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um unsere Unschuld zu beweisen», drohte Stroll. Die Streitparteien haben 96 Stunden Zeit, eine Beschwerde offiziell einzureichen.

Wolff hatte aber noch anderen Zoff. Bis Mittwoch soll der ab 2021 gültige Grundlagenvertrag, der die Verteilung der Formel-1-Einnahmen regelt, abgesegnet sein. «Das werden wir sicher nicht schaffen», sagte Wolff. Denn Mercedes sei seiner Ansicht nach bei der Preisgeldvergabe das «größte Opfer».

Der Österreicher verwies auf die Erfolge des Teams und auf Weltmeister Lewis Hamilton als Fahrer mit der «größten globalen» Strahlkraft. «Wir haben den Eindruck, dass wir nicht so behandelt wurden, wie wir sollten und deshalb gibt es noch eine Menge rechtlicher Themen für uns», meinte Wolff. «Ich fühle mich nicht bereit dazu, das Concorde Agreement zu unterzeichnen.»

Wolff zeigte sich später aber versöhnlicher. Er sehe insgesamt «keine großen Hürden, man muss sich nur zusammensetzen.» Wenn man ein «vernünftiges Concorde Agreement» erziele, «dann ist das auf jeden Fall ein Sport, in dem wir bleiben wollen.» Trotz Beteuerungen wird immer wieder spekuliert, Mercedes könne sich auch vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Folgen durch die Corona-Pandemie zurückziehen.

Der Formel-1-Rechteinhaber, der den Grundlagenvertrag mit den zehn Teams und dem Motorsport-Weltverband aushandelt, hält am Zeitplan unbeeindruckt fest. «Die Vereinbarung ist wichtig für die Zukunft des Sports», ließen die Bosse unmissverständlich wissen. «Wir machen damit weiter und es wird nichts verschoben.»

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